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Fintech-Interview: «Künstliche Intelligenz darf keine Black Box sein»

Als ZHAW-Professor für Finance and Risk Modelling beschäftigt sich Jörg Osterrieder mit Datenanalyse, Blockchain und Künstlicher Intelligenz. Seine Expertise ist auf internationaler Ebene gefragt. Im Interview gewährt er Einblick in die aktuellen Entwicklungen der Finanztechnologie.

Prof. Dr. Jörg Osterrieder forscht an der ZHAW im Schwerpunkt Finance, Risk Management and Econometrics.

Fintech-Startups sind vor Eintreten der COVID-19-Pandemie wie Pilze aus dem Boden geschossen. Wie gestaltet sich die Situation jetzt?

Jörg Osterrieder: Die wirtschaftliche Destabilisierung aufgrund von COVID-19 hat auch vor Fintech-Start-ups nicht Halt gemacht. Das Finanzierungsvolumen war so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Während der COVID-19-Pandemie hat Technologie jedoch auch neue Möglichkeiten für digitale Finanzdienstleistungen geschaffen, um die finanzielle Inklusion zu beschleunigen und zu verbessern. Nicht zuletzt aufgrund der sozialen Distanzierungs- und Eindämmungsmassnahmen hat die Nutzung digitaler Finanzdienstleistungen und des elektronischen Handels enorm zugenommen. Aktuell stellt sich die Wirtschaft wieder von «Reagieren» auf «Erholen» um – dadurch könnten sich für einige Fintechs neue Möglichkeiten ergeben. Eine Schlüsselfrage ist, wie diese ihre einzigartigen Vermögenswerte und Fähigkeiten nutzen können, um in Zukunft neue Chancen zu ergreifen. Die unmittelbare Sorge ist natürlich der Umgang mit der gegenwärtigen Unsicherheit, die noch andauern wird, aber sicherlich überwunden wird.

Mittel- bis langfristig wird sich der Trend der Fintech-Startups also fortsetzen?

Die Digitalisierung fliesst heute in alle Aspekte des Lebens ein. Was die Wirtschafts- und Geschäftsaktivitäten betrifft, bildet die Finanzindustrie keine Ausnahme. Die Investitionen in den Fintech-Sektor nehmen weltweit zu. Schauen wir uns die Neugründungen an, waren allein in der Schweiz per Anfang 2020 über 360 Fintech-Start-ups registriert. Die Menge an Daten und an digitalen Vermögenswerten explodiert geradezu. Es bestehen gleichzeitig hohe Bedenken bezüglich Privatsphäre. Dazu gewinnen Nachhaltigkeitsaspekte immer mehr an Bedeutung. Und nicht zuletzt bietet der technologische Fortschritt neue Möglichkeiten.

Sie meinen Künstliche Intelligenz?

Künstliche Intelligenz – oder kurz KI – ist ein prominentes Beispiel für diese neuen Technologien und wird am häufigsten medial erwähnt. Bis 2021 werden weltweit Investitionen von bis zu 58 Milliarden US-Dollar in KI erwartet. Finanzunternehmen können auf zwei Arten einen Mehrwert aus Analytik und maschinellem Lernen ziehen: Kosten senken und Umsatz steigern. Beispielsweise können Banken maschinelles Lernen in ihrem Kreditprozess anwenden. Abhängig vom Kunden, der Höhe des Kredits und der Komplexität des Vorgangs kann die Kreditvergabe automatisiert werden, was sich direkt auf die Betriebskosten auswirkt. Darüber hinaus kann maschinelles Lernen Muster in Daten entdecken, die vom Menschen nicht gefunden werden. Dies kann dazu beitragen, bessere Kreditentscheidungen zu treffen, selbst wenn der Prozess nicht vollständig automatisiert werden kann.

«Wer unsere Forschungsergebnisse mitverfolgt hat, war vom starken Preisverfall der Kryptowährungen im Laufe des Jahres 2018 nicht überrascht.»

Jörg Osterrieder

Ist das auch für die ZHAW ein Forschungsthema?

Ja, wir arbeiten an der ZHAW interdisziplinär und departementsübergreifend daran. Im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts haben wir Netzwerkmodelle verwendet, um genauere Vorhersagen über die Kreditwürdigkeit von Kunden zu treffen. Zusammen mit 22 europäischen Partneruniversitäten und 27 nationalen Aufsichtsbehörden wollen wir in dem Projekt aber auch neue Wege untersuchen, wie man Risiken besser abschätzen kann. Ein weiteres Hauptforschungsgebiet ist erklärbare KI. Im Rahmen eines Innosuisse-Projekts konzentrieren wir uns auf transparente, nichtdiskriminierende und verständliche Kreditentscheidungen. Durch maschinelles Lernen können Gläubiger das Kreditrisiko reduzieren, indem sie eine Fülle von Kundendaten auswerten. Diesen Modellen fehlt jedoch die von den Regulierungsbehörden geforderte Transparenz. Wir schlagen deshalb ein visuelles Analysetool vor, um das Innenleben von solchen Modellen für die Kreditbewertung zu verstehen. KI darf keine Black Box sein.

Welche Auswirkungen hat die Blockchain-Technologie auf den Finanzsektor?

Die Blockchain-Technologie kann in mehreren Bereichen Anwendung finden. Heute kommt sie hauptsächlich als dezentrale Transaktionsdatenbank für Kryptowährungen wie Bitcoin zum Einsatz. Blockchain-basierte, intelligente Verträge können ohne menschliche Interaktion ausgeführt oder durchgesetzt werden. Banken sind an dieser Technologie interessiert, weil sie das Potenzial hat, Back-Office-Abwicklungssysteme zu beschleunigen. Trotz des Hypes um Blockchain sind echte Anwendungen jenseits von Kryptowährungen aber immer noch selten anzutreffen. Umso gefragter ist unsere angewandte Forschung und Entwicklung in diesem Bereich: Im Rahmen unseres Innosuisse-Projekts «Digitales Immobiliendossier» bauen wir zusammen mit der ZHAW School of Management and Law eine kundenorientierte Immobilienplattform ohne zentrale Datenbank auf – mit intelligenten Verträgen und einer Blockchain. Ausserdem haben wir gemeinsam mit Swisscom in einem Forschungsprojekt analysiert, wie Verträge in der Blockchain rechtsgültig unterzeichnet werden können.

Warum sind Kryptowährungen so beliebt?

Sie werden hauptsächlich ausserhalb bestehender Bank- und Regierungsinstitutionen verwendet und über das Internet ausgetauscht. Diese speziellen Umstände, aber vor allem ihre starken Preiserhöhungen in der Vergangenheit haben die Kryptowährungen bekannt gemacht. Durch die weitgehend unregulierte Verwendung sind sie auch Manipulationen und illegalen Aktivitäten ausgesetzt. In einer Reihe von Forschungsarbeiten zu den Risiken von Kryptowährungen haben wir bereits 2016 gezeigt, dass der Handel damit Gefahren birgt. Wer unsere Forschungsergebnisse mitverfolgt hat, war vom starken Preisverfall im Laufe des Jahres 2018 nicht überrascht.

Sie haben einleitend auch Nachhaltigkeitsaspekte erwähnt. Kann man mit Fintech-Projekten gegen den Klimawandel vorgehen?

Natürlich gewinnt das Thema auch in der Finanzbranche an Bedeutung. Im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds untersuchen wir gemeinsam mit Forschenden der ZHAW School of Management and Law die Nachhaltigkeit von grossen Finanzinvestoren. Dabei verwenden wir verschiedene Kennzahlen, um aufzuzeigen, wie nachhaltig und ökonomisch sinnvoll eine Firma agiert. Verbinden wir dies mit statistischen Methoden, können wir daraus Handlungsempfehlungen für Investoren und Regierungen ableiten. Wir hoffen, damit einen Beitrag zum Klimaschutz leisten zu können.

European Conference on Artificial Intelligence in Industry and Finance

Mit dieser jährlich stattfindenden Konferenz bringen die ZHAW School of Engineering und die School of Management and Law als Gastgeber europäische Wissenschaftlerinnen und Forscher sowie Studierende und die Wirtschaft zusammen, um Anwendungen von Künstlicher Intelligenz in der Industrie zu diskutieren. 2020 fand die Konferenz bereits zum fünften Mal statt – wenn auch erstmals ausschliesslich als Webinar. Umso bemerkenswerter, dass über 340 Teilnehmende an den vier thematischen Sessions zu verzeichnen waren. Diskutiert wurde unter anderem über neuronale Netze für den Aktienhandel, Wege zu einer neuen umfassenden menschlichen künstlichen Intelligenz bis hin zu ethischen Fragestellungen. Die sechste Ausgabe der European Conference on Artificial Intelligence in Finance and Industry wird am 9.September 2021 stattfinden.