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Hightech-Material, das mit dem Körper verschmilzt

In ihrem Practice-to-Science Projekt forscht Maschinentechnik-Dozentin Barbara Röhrnbauer an alternativen Materialien für die Behandlung von Beckenbodensenkungen. Bisher genutzte Materialien führten in der Vergangenheit zu teils schweren Komplikationen bei Patientinnen und viele Produkte wurden daraufhin vom Markt genommen. Zurück blieb eine Materiallücke, die nach der Entwicklung von Alternativen verlangt.

Auf der Abbildung ist (Bereich a) die Anatomie des weiblichen Beckenbodens mit einer repräsentativen Implantationsstelle (blau), daneben ist eine (Bereich b) repräsentative Darstellung eines Vaginalnetzes zu sehen; während momentane Netze hauptsächlich grossporige Polypropylen Netze sind, fokussiert dieses Forschungsprojekt auf neue nanostrukturierte Membranen (Bereich c).

Wenn sich die Organe im Beckenboden der Frau senken, da das eigene Gewebe aus unterschiedlichen Gründen – beispielsweise einer Schwangerschaft oder Spontangeburt – verletzt oder nicht mehr stabil genug ist, spricht man von einer Beckenbodensenkung. Neben konservativen Therapien wie Physiotherapie werden bei schwerwiegenden Fällen sogenannte Vaginalnetze implantiert (siehe Abbildung). Vorbild für diese Implantate waren Herniennetze, die bei dem «männlichen Äquivalent», dem Leistenbruch als Therapie bereits etabliert sind. Bei Frauen führte deren Verwendung aber teils zu starken Komplikationen. Etwa zehn Prozent der Patientinnen litten unter starken Schmerzen durch Netzkomplikationen wie Infektionen oder Erosion, wenn sich das Netz durch das Gewebe durcharbeitet. «Der Anteil an Komplikationen bei zehn Prozent Patientinnen ist relativ hoch – für die Medizin inakzeptabel hoch», erklärt Barbara Röhrnbauer. Die Folge: Es kam zu Schadensersatzklagen, vor allem in den USA. Viele Netzhersteller nahmen daraufhin die Produkte bzw. das Material vom Markt. Expert:innen erklärten die Ursachen für die Komplikationen dadurch, dass das Material ohne zusätzliche klinische Evidenz vom Einsatz bei Leistenbrüchen auf den Einsatz bei Beckenbodensenkungen übertragen wurde. «Dabei wurde jedoch überhaupt nicht berücksichtigt, dass es sich hierbei um viel komplexere Strukturen und ein anderes biologisches Milieu handelt», so Röhrnbauer. «Aus meiner Sicht als Ingenieurin und basierend auf meinen früheren Forschungsresultaten spielt zudem die Mechanik eine wesentliche Rolle. Der mechanische Lastfall im Beckenboden ist ein anderer als in der Bauchwand. Ausserdem ist unsere Hypothese, dass die lokalen mechanischen Eigenschaften der Netze, also das Deformationsverhalten nicht verträglich ist mit den Geweben im Beckenboden, sie also mechanisch nicht biokompatibel sind.»

Neue Materialien durch Elektrospinning-Verfahren

Nachdem viele Produkte vom Markt genommen wurden und keine Alternativen folgten, stand den Ärzt:innen nur noch begrenzt Operations-Material zur Verfügung. Dies nicht nur für Beckenbodensenkungen, sondern auch für Inkontinenz-Fälle, da hier das gleiche Material – jedoch erfolgreich – zum Einsatz kommt.

In der Forschung hat sich daraufhin bezüglich der Entwicklung alternativer Materialien einiges getan. Mit dem sogenannten Elektrospinning, das auch ZHAW-Forscher:innen in Wädenswil betreiben, lassen sich mittels eines starken elektrischen Felds Nanofasern herstellen und in Form von Membranen ablegen. «Elektrogesponnene Membranen werden bereits vielfach in der Gewebezüchtung verwendet, da sie eine Nanostruktur aufweisen, die extrazellulärer Matrix ähnelt – also dem Material, in dem sich menschliche Zellen gerne ansiedeln. Dieses Material könnte sich für die Behandlung etwa bei Beckenbodensenkungen aufgrund seiner besseren mechanischen Biokompatibilität eignen. Dabei geht es um die Frage nach dem Deformationsverhalten und dem Zusammenspiel der Mikrostruktur mit den Zellen. «Wie muss das Material konstruiert sein, damit es mechanisch kompatibel ist? Auf welchen Strukturen siedeln sich Zellen gerne an und wie verhalten sie sich dort?», nennt Barbara Röhrnbauer einige der Forschungsfragen. Im besten Fall entwickelt man ein Material, das im Körper abbaubar ist. Das körpereigene Gewebe wächst hinein und bildet eine stabile Struktur. Gleichzeitig zieht sich das künstliche Material zurück. Ein kontrollierter Aufbau von Gewebe und Abbau von Implantatmaterial ist dafür die Voraussetzung. «Das wäre aber die Idealvorstellung», fügt Barbara Röhrnbauer hinzu.

Mechanische Komponenten in der Entwicklung bisher vernachlässigt

In dem Practice-to-Science-Projekt von Barbara Röhrnbauer geht es zunächst primär darum, die mechanischen Eigenschaften der elektrogesponnen, nanostrukturierten Membranen auf verschiedenen Längenskalen zu verstehen. «Wir wollen wissen, wie sich die Fasern abhängig davon verhalten, wie man sie spinnt und miteinander verknüpft und welche Auswirkungen hat dies auf das mechanische Verhalten», so Röhrnbauer. Angestrebtes Ziel ist es, nach zwei Jahren erste Korrelationen zu sehen, um Antworten auf die Fragen zu haben: Wie ist das Material designt, wie funktioniert die Mechanik des Materials und was machen die Zellen damit? Darauf aufbauend ist dann für das dritte Jahr die Herstellung eines Materials geplant, das sich für die Zellen besonders gut eignet. So könnte am Ende ein Material stehen, dass für erste Versuche in anderen Disziplinen wie der Biologie bereitstehen würde. Bis zu ersten klinischen Tests ist es jedoch noch ein langer Prozess. Barbara Röhrnbauer spricht hier von einem Zeithorizont von zehn Jahren und mehr. «Als Ingenieur:innen ist es uns wichtig hier einen Beitrag zu leisten, da die mechanische Komponente bislang immer vernachlässigt wurde», betont die ZHAW-Forscherin.