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Weit mehr als technisches Spielzeug

Am 3. März 2024 setzten sich am 7. Winterthurer Ergo-Gipfel rund 100 Teilnehmende mit Technologien in der Therapie auseinander. Sie verfolgten am Departement Gesundheit Vorträge über KI, Extended Reality, Digitalisierung, Apps und mehr, diskutierten in «Seilschaften» und vernetzten sich in der Ausstellung mit Sponsor- und Partner:innen.

Das Publikum lacht, als Institutsleiterin Christiane Mentrup ihre Begrüssung mit den Worten schliesst: «Klingt gut, oder? Ist aber nicht mein Text.» Der Ghostwriter, verrät sie verschmitzt, war ChatGPT.

Gewinn an Lebensqualität

Welch enormen Unterschied technische Helfer machen können, demonstriert der erste «Gipfelstürmer»-Referent Daniel Rickenbacher. Der 29-Jährige hat eine Zerebralparese und lebt mit Hilfsmitteln und der Unterstützung von Assistenzen selbstständig. Als sein wichtigstes Gerät präsentiert er seinen Talker, mit dem er sich verständigt. Er bedient damit aber auch seinen Computer, was ihm die Arbeit bei der Firma Active Communication erleichtert, ebenso wie die Assisstenzplanung, die er – wie er in der anschliessenden Diskussionsrunde amüsiert erklärt – im Excel mit vielen Formeln umfassend optimiert hat. Daneben spielt sein höhenverstellbarer Elektrorollstuhl eine wichtige Rolle – als Fortbewegungsmittel, um auf Augenhöhe zu kommunizieren und um sich anzuziehen. Zum Schluss zeigt Rickenbacher mit einem Video beispielhaft den Einsatz seines Handys: Er steuert damit seine Haus- und Wohnungstür, aber auch seine heiss geliebte Kaffeemaschine. So wird unmissverständlich klar, was seine technischen Begleiter:innen für ihn letztlich bedeuten – schlicht Lebensqualität.

Mitgestalten, was man nicht aufhalten kann

Einen etwas kritischeren Blick auf die Technik wirft Gipfelstürmerin Vera Kaelin. Die Postdoktorandin am Collaborative AI Lab der Umeå Universität stellt die bisherige Forschung vor, die in der partizipations-orientierten pädiatrischen Rehabilitation künstliche Intelligenz* einsetzt. Das Fazit: Ob Kinder partizipieren, wird darin fast ausschliesslich mit Sensoren und Kameras beobachtet, jedoch nicht bei den Kindern selbst erfragt. Zudem sind KI-gestützte Interventionen kaum auf die Bedürfnisse der Klient:innen ausgerichtet, also nicht «klient:innenzentriert». Da neue Forschung auf solchen Studien aufbaut und künftig Algorithmen beeinflussen könnten, welchen Klient:innen Ergotherapie zugesprochen wird und welchen nicht, betont Kaelin, wie wichtig es ist, dass Ergotherapeut:innen mit Entwickler:innen zusammenarbeiten, um eine «menschen-zentrierte KI» zu fördern. Dazu nennt sie erfolgreiche amerikanische Projekte, die sich am ICF orientieren, sowie ihre eigene Forschung, in der Partizipations-Strategien von Eltern aus dem PEM+ mithilfe von KI systematisch anderen Eltern zugänglich gemacht werden.

Virtuell üben für die Realität

Als letzter Gipfelstürmer stellt Stefan Staubli Extended-Reality-Anwendungen** vor, mit denen Klient:innen am Schweizer Paraplegiker Zentrum für den beruflichen Wiedereinstieg trainieren. Darunter etwa ein Handbike mit funktioneller Elektrostimulation samt VR-Applikation, ein Baumaschinensimulator, der Maschinenführer:innen nach kurzer Zeit vergessen lässt, dass sie kein echtes Fahrzeug steuern oder das ParaVerse, eine Art VR-Brille mit Augensteuerung, mit der auch Menschen mit Amputationen oder Locked-in-Syndrom lesen, schreiben oder online surfen können. Ebenso stellt Staubli SmartLearning mit Augmented Reality (AR) vor, das Lernenden ermöglicht, eine standardisierte Tätigkeit beliebig oft zu üben. «Die virtuelle Wirklichkeit ist zwar nicht real», fasst der frühere Ergotherapeut Staubli zusammen, «sie hilft aber, so zu trainieren, dass künftig echte Partizipation möglich wird.»

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8. Winterthurer Ergo-Gipfel: 7.3.2026

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Von Digitalisierung und Apps

Nach der Pause geht’s mit den Referaten und Seilschaften der «Erstbesteiger:innen» weiter. Als Erste erklärt Nilofar Niazi, Gründerin und Geschäftsführerin von Nextherapy, wie sie mithilfe digitalisierter Prozesse in der Neuroreha Adminzeit spart und wie Therapeut:innen über eine App sämtliche Behandlungsprozesse nicht nur verwalten, sondern auch sicht- und vergleichbar machen können. Ebenfalls auf digitale Anwendungen geht Lena Rettinger ein. Die Ergotherapeutin und Doktorandin entwickelt am Competence Centre «Digital Health & Care» am FH Campus Wien gemeinsam mit Entwickler:innen und Klient:innen Apps. Wie Vera Kaelin ist auch Rettinger überzeugt, dass sich Ergotherapeut:innen in solche Entwicklungen einbringen oder zumindest versuchen sollten, diese für die Therapie zu prüfen.

Tele-Assessments, Robotik und Smart Homes

Die drei letzten «Erstbesteiger:innen» präsentieren angewandte Forschung. Den Einstieg macht Dr. Martina Spiess stellvertretend für Lena Sauerzopf, Doktorandin an der ZHAW-Forschungsstelle Ergotherapie. Mit Kameras und Sensoren misst und bewertet Sauerzopf ausweichende Armbewegungen, die Patient:innen nach einem Schlaganfall beim Trinken ausführen. Diese Daten dienen als Basis für einen Algorithmus, der später in der Telereha eingesetzt werden soll. Ebenfalls «remote» dient der soziale Roboter, den Prof. Dr. Harmut Schulze mit seinem Team an der FHNW für den Einsatz in Pflegeheimen testete. Über ihren rollenden Telepräsenzroboter mit integriertem Bildschirm können Angehörige, die weit weg wohnen, häufiger mit ihren Liebsten in Kontakt sein. Auch die Forschung des iHomeLab der Hochschule Luzern zielt auf ältere Menschen. Senior Researcher Clemens Nieke geht auf die Frage ein, ob Daten aus «smarten» Geräten genutzt werden sollten, damit ältere Menschen länger zu Hause wohnen können. Abgesehen von der Schwierigkeit, dass smarte Daten zwar zahlreich vorhanden sind, jedoch vollkommen dezentral, weist er auf den Datenschutz als Herausforderung hin.

Ausstellung, Basislager und nächste Ergo-Treffen

Nach dem Mittagessen und der Ausstellung mit Sponsor- und Partner:innen folgen zwei Runden «Basislager». Dafür wählen die Teilnehmenden zwei im Vorfeld eingereichte Themen und diskutieren nach einem kurzen Input in der jeweiligen Seilschaft. Da die Themen unabhängig vom Gipfel-Thema sind, ist die Bandbreite gross. So geht es zum Beispiel um Advanced Practice, KI zur Trainingssteigerung nach Schlaganfall, Spiritualität in der Ergotherapie, um den neuen Ergotherapie-Studiengang der FH OST, die Praktikumsausbildung oder Forschung zu betätigungsbasierten Rehabilitationstechnologien.

Nach dem üppigen Programm dankt Weiterbildungsleiterin Anika Stoffel als Gipfel-Verantwortliche allen Beteiligten und überlässt – nach einem Hinweis auf den nächsten Gipfel am 7. März 2026 – das Wort Andri Cavegn, EVS-Vorstandsmitglied. Dieser fasst den Anlass augenzwinkernd zusammen, spricht vom Überwinden des Jura(-Kaffeemaschinen)-Massivs, Baggerfahren jenseits der Vorstellungskraft und KI, die in die Ergo-Schule muss, um Partizipation zu lernen. Zum Abschluss verweist er auf die nächste Gelegenheit, sich zu treffen: Am Ergotherapie-Kongress des EVS vom 24.-25. Mai 2024 in Fribourg. 

*Künstliche Intelligenz (KI) ist die Fähigkeit von Maschinen oder Computerprogrammen rational «zu denken» und zu handeln. (Russell & Norvig, 2015; aus Präsentation Vera Kaelin)

**Extended Reality (XR) ist eine Zusammenfassung aller möglichen Kombinationen von Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR); Virtual Reality (VR) steht für eine künstliche Welt, die sehr immersiv wirkt; Augmented Reality (AR) ist die Anreicherung der echten Umgebung mit virtuellen Informationen. (Präsentation Stefan Staubli)