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Die Sprachen der Energiewende

Ein Forscherteam des Departements Angewandte Linguistik der ZHAW untersucht Muster des Sprachgebrauchs in Schweizer Energiediskursen. Die untersuchte Textsammlung gehört zu den grössten ihrer Art.

Verwendung von Begriffen wie «Fukushima», «Atomkraft» und «erneuerbare Energie» in deutschsprachigen Medien 2007–2017

Warum braucht die französische Schweiz den Ausdruck «fossile Energien» häufiger als die Deutschschweiz? Ist das Verständnis von Energiefragen in den Sprachregionen verschieden? Und wie äussert sich das in Themen und Argumentationen öffentlicher Kommunikation? Wann genau schnellt der Gebrauch wichtiger Wörter wie «Fukushima» oder «Wasserkraft» in die Höhe? Mit welchen anderen Wörtern werden sie kombiniert? Welche öffentlichen Erzählweisen entstehen und inwiefern sichern oder behindern diese die Akzeptanz politischer Veränderungen und technologischer Innovation? Auf Fragen wie diese wollen ZHAW-Forschende Antworten finden. Sie haben dazu bisher gegen vier Millionen Texte gesammelt. Diese werden mit Metadaten angereichert – Fachleute sprechen von Annotationen – und sind dann als sogenanntes Korpus mit Unterstützung von Software analysierbar.

Riesige Datenmengen

Die Basis für das Korpus bilden frei zugängliche Bereiche aus dem Internet: beispielsweise sämtliche Inhalte der Webseiten der Bundesbehörden, von Interessensverbänden und politischen Parteien oder vieler Tages-, Wochen- und Fachmedien. Und das Ganze in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. Solch riesige Datenmengen lassen sich nur noch mittels methodischer Forschung sinnvoll sammeln, speichern und auswerten. «Für Akteure ist es heute eine gewaltige Herausforderung, ihr Kommunikationsumfeld zu beobachten: Es gleicht einem ‹Ozean› aus Sprachen und Diskursen», erklärt Co-Projektleiter Peter Stücheli-Herlach. Zur Lösung dieses Praxisproblems möchten die ZHAW-Forschenden einen Beitrag leisten.

Diskurskoalitionen und -kontroversen

Der Untersuchungsgegenstand des Projektes sind Energiediskurse. Der Begriff umfasst weit mehr als die Debatten um die Energiewende. Für Stücheli-Herlach ist ein Diskurs «ein Netzwerk von typischen sprachlichen Ausdrucksweisen und Bedeutungen in einer bestimmten Welt. Diese Bedeutungen prägen massgeblich das kollektive Wissen in einer Gesellschaft.» Immer wieder entwickeln sich zwischen Diskursteilnehmenden solche Ausdrucksweisen mit bestimmten Bedeutungen. Daraus können ganze Narrative entstehen, an denen sich kommunikativ aufeinander abgestimmte Akteursnetzwerke orientieren. Die Fachwelt spricht hier von Diskurskoalitionen. Ein Beispiel für ein solches Narrativ ist, wenn von einer technisch hoch entwickelten und gleichzeitig ökonomisch günstigen Atomenergie die Rede ist. Diese Umschreibung wurde zwar schon immer kontrovers betrachtet, wird nun aber abgelöst durch die Rede davon, dass andere Energiequellen «erneuerbar» seien und mit staatlicher Unterstützung dann irgendwann einmal auch wirtschaftlich betrieben und technisch optimiert werden können. Solche Diskurskoalitionen zeichnen sich dadurch aus, dass sich unterschiedlichste gesellschaftliche Akteure darauf einigen können. Die Linguisten sprechen hier von einer gemeinsamen Prägung des Sprachgebrauchs. Solche Prägungen etablieren sich auch über die Grenzen politischer Ideologien oder wirtschaftlicher Interessenlagen hinweg. Diese Prozesse, die politische Institutionen mitbeeinflussen können, sind aber immer auch von Auseinandersetzungen geprägt. Diese Auseinandersetzungen nennen die Linguisten Diskurskontroversen. Sie entzünden sich an neuen Ereignissen, an neuen Erkenntnissen oder werden durch politische Sprachstrategien und darauf gestützte Interventionen entfacht. Dies zeigt eindrücklich das Beispiel des US-Präsidenten, der jüngst einer seiner Behörden den Gebrauch des Ausdrucks «Klimawandel» verboten hat. Solche Muster und entsprechende Dynamiken des Sprachgebrauchs stehen im Fokus des Projekts. Sie bilden eine Grundlage für demokratische Auseinandersetzungen (mittels Diskurskontroversen) und Prozesse wechselseitiger Abstimmung der Akteure (mittels Diskurskoalitionen) zum Thema -Energiezukunft in der Schweiz.

 

Über eine Milliarde Wörter

Mit aktuell 1,19 Milliarden Wörtern gehört «Swiss-AL-C» – so der Name des ZHAW-Korpus – zu einem der grössten Korpusprojekte im deutschsprachigen Raum. Um diese Daten untersuchen zu können, braucht es interdisziplinäre Zusammenarbeit. «Wir mussten eine Linguistin mit soliden Programmierkenntnissen anstellen», erklärt Co-Projektleiterin Maureen Ehrensberger-Dow. Gerade das automatische Erkennen unterschiedlicher natürlicher Sprachen ist eine knifflige Programmieraufgabe, die keine Person, keine Disziplin und keine Institution allein bewältigen kann. Auch bei der Suche nach wichtigen Themen des Diskurses kämen die Forschenden nicht weit, wollten sie die Texte selber lesen und manuell einordnen. Mit der Methode des «Topic Modeling» ermittelt ein Programm Cluster von zusammen auftretenden Wörtern, hinter denen thematische Strukturen vermutet werden können. Es lassen sich so beispielsweise all jene Texte auswählen, die mit Energiepolitik zu tun haben. Weitere Hinweise auf thematische Strukturen lassen sich aufgrund von Frequenzanalysen im Zeitvergleich gewinnen. Die abgebildete Grafik zeigt beispielsweise deutlich, wie der Gebrauch des Wortes «Wasserkraft» nach der Abstimmung zum Energiegesetz im Mai 2017 zunimmt.

Energiewandel als demokratischer Wandel

Die Grundlagen für das Korpus entstanden aufgrund des ZHAW-Schwerpunktes «Energie» mit finanzieller Unterstützung aus einem speziellen Fördertopf der ZHAW. Das aktuelle Projekt wird im Forschungsprogramm Energie – Wirtschaft – Gesellschaft (EWG) des Bundesamtes für Energie (BFE) massgeblich gefördert und läuft über drei Jahre bis 2019. Ziel des Projektes ist es, die Voraussetzungen für den Wandel des Schweizer Energiesystems zu untersuchen. Viele werden sich fragen, was die Sprachforschung im Gegensatz zu technischen Herangehensweisen denn zur Energieforschung beitragen kann? Für Peter Stücheli-Herlach liegt die Antwort auf der Hand: «Es gibt keinen Energiewandel ohne demokratische Entscheide und ohne technologische Innovation. Doch beides kann nur gelingen, wenn kommunikative Auseinandersetzungen und Verständigungen stattfinden. Deren Grundlage ist der lebendige Diskurs.»

Autor: Abraham Gillis

Hochschulmagazin ZHAW-Impact

«Energiewende» lautet das Dossierthema der aktuellen Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact. Eine Auswahl der Themen: Wie können Städte und Gemeinden die Bevölkerung zum Energiesparen bewegen? Wie hat sich der Energiediskurs verändert? Weshalb schrecken Hauseigentümer vor Investitionen in erneuerbare Energien und Effizienz zurück, obwohl Fördergelder und Steuererleichterungen locken? Wie sieht eine wirksame Energie- und Klimapolitik aus? Intelligente Netze und Lösungen, dank derer Solarenergie erzeugt werden kann, wenn sie gebraucht wird, nicht nur, wenn die Sonne scheint.

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