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Radikalisierung früh erkennen

Radikalisierung ist als Thema präsent: in der Gesellschaft und in den Medien. Meist allerdings erst, wenn es bereits zu einem Vorfall gekommen ist. Wie kann Radikalisierung frühzeitig erkannt werden?

Ein Jugendlicher lehnt an eine Wand, der eine sitzt daneben auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand.

von Miryam Eser Davolio, ZHAW Soziale Arbeit, und Daniele Lenzo, Leiter der Fachstelle für Gewaltprävention, Schul- und Sportdepartement Stadt Zürich

Das Schweizer Zentrum für Gewaltfragen (SIFG) hat sich mit der Früherkennung von Radikalisierungstendenzen auseinandergesetzt und RA-PROF – Radicalisation Profiling entwickelt. RA-PROF ist ein Online-Tool, das auf Fragestellungen aus der Jihadforschung und auf Checklisten zu Erkennungsmerkmalen für Radikalisierungstendenzen in europäischen Ländern aus bestehenden Leitfäden basiert. Das Tool ermöglicht es, Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen – dies anhand der Auswertung von Indizien und einer Verdichtung der Information. So kann rasch reagiert und den Betroffenen Beratung angeboten werden.

Beurteilung und Beratung

Die elektronische Auswertung des Online-Fragebogens wird in einer Ampelfarbe angezeigt: Rot steht für dringenden Handlungsbedarf, orange bedeutet weitere Abklärungen und grün weist darauf hin, dass zurzeit kein dringender Handlungsbedarf besteht. Ergänzt wird das Ergebnis durch eine detaillierte Beurteilung durch ausgewiesene Fachpersonen. So können Beratende und Betroffene wie Lehrpersonen, Jugendarbeitende und Eltern gemeinsam ein Lagebild definieren und ein angemessenes Vorgehen besprechen und planen. Dadurch, dass die Anfrage des Tools einfach und anonym (mit Bezug auf die gefährdete Jugendliche / den gefährdeten Jugendlichen) ist, ist die Schwellenangst der Betroffenen klein und durch die Beratung werden ihre Anliegen und Sorgen betreffend die Einschätzung der Situation und das weitere Vorgehen aufgefangen. Bei Extremismus geht es sowohl um Selbst- als auch Fremdgefährdung. Das Präventionsziel ist die frühzeitige Erkennung von Radikalisierungen: Also zu einem Zeitpunkt, an dem noch Einwirkungsmöglichkeiten bestehen, bevor die Einstellungen verhärtet und die Gewaltbereitschaft derart ausgebildet sind, dass Aufklärung und Beratung auf Granit stossen.

Fokus auf Haltungen statt Bärte

In einem nächsten Schritt wurde RA-PROF vom SIFG in Zusammenarbeit mit Miryam Eser Davolio von der ZHAW Soziale Arbeit für einen weiteren Verwendungszweck angepasst: Analog zu RA-PROF wurde ein Tool zur frühzeitigen Einschätzung von rechtsextremistischen Radikalisierungstendenzen entwickelt. Beide Tools – sowohl RA-PROF für jihadistische Radikalisierung als auch das Tool für rechtsextremistische Radikalisierung – sind für die Einschätzung von Personen jeden Alters, also nicht nur von Jugendlichen, geeignet. Es handelt sich dabei nicht um ein Diagnoseinstrument, sondern um eine Checkliste. Die Tools bieten Unterstützung, wenn es darum geht, Einschätzungen zu verdichten und festzustellen, ob Beratungsbedarf besteht. Wer die Checkliste ausfüllt, merkt oft, dass sich viele der Fragen nicht beantworten lassen, da nicht genügend Informationen über die Betroffenen vorliegen. Diese Fragen können wichtige Hinweise darauf geben, auf welche weiteren Aspekte, Einstellungen oder Verhaltensweisen geachtet werden könnte, damit das Bild vollständiger wird. Gleichzeitig sind die Fragen so differenziert ausgelegt, dass das Verstärken gängiger Stigmatisierungen und die Reduktion auf Äusserlichkeiten wie Haare und Kleidung vermieden werden und das Augenmerk stattdessen auf Haltungen und Äusserungen (Ideologie, Schwarz-Weiss-Denken) sowie auf dem Verhalten (Internetnutzung, plötzliche Veränderungen der Lebensweise, Gewaltaffinität) liegt.

Anonymität als Vorteil

Ein grosser Vorteil für Fachleute oder Angehörige, die das Tool benutzen, ist die Anonymität: Es müssen keine Angaben zum potenziell Radikalisierten gemacht werden, die Rückschlüsse auf seine Person ermöglichen. Das Tool führt somit nicht zu einer Denunziation oder zu einem automatischen Einschalten der Polizei. Nur wenn RA-PROF rot oder orange anzeigt und die Beratung den Verdacht auf Radikalisierung erhärtet, legt der Beratende der signalisierenden Person nahe, die Polizei einzubeziehen. Die bisherigen Erfahrungen auf Seiten der Beratenden und der Hilfesuchenden zeigen, dass in den meisten Fällen Entwarnung gegeben werden konnte. In den anderen Fällen waren weiterführende Abklärungen und Beratungen zielführend, so dass die Intervention einer weiteren Radikalisierung vorbeugen konnte.

Deradikalisierung erkennen

Neu wurden zudem ein weiteres Instrument entwickelt, das sowohl jihadistische als auch rechtsextremistische Deradikalisierungstendenzen zu erkennen hilft. DeRA-PROF ist in verschiedenen Schweizer Städten in Extremismus-Beratungsstellen im Einsatz.