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Zusammenhalt ist wichtig für Demokratie und Wohlstand

Welches sind die treibenden Kräfte einer gesellschaftlichen Entwicklung – technologische oder soziale Innovationen? Was tut die ZHAW für gesellschaftliche Integration? Ein Interview mit Rektor Jean-Marc Piveteau und Ursula Blosser, Leiterin des Departements Soziale Arbeit – eine Vorabveröffentlichung aus der jetzt aktuellen Juni-Ausgabe des Hochschulmagazin ZHAW-Impact.

In Zeiten, in denen Menschen, die sich für die Umwelt, für Frauenrechte oder Flüchtlinge einsetzen, als Gutmenschen verunglimpft werden, hat die ZHAW einen neuen Forschungsschwerpunkt «Gesellschaftliche Integration» eingeführt. Weshalb?

Jean-Marc Piveteau: Wer sich für etwas engagiert, an das er glaubt, musste schon immer mit Widerständen rechnen. Diesen Schwerpunkt haben wird gewählt, weil gesellschaftliche Integration in Zeiten des digitalen Wandels eine drängende Problematik mit vielen Facetten ist. Dazu zählen Sprachdiversität, die digitale Kluft, Auswirkungen assistierender Robotik auf die Arbeitswelt oder ungleich verteilte politische Partizipationsmöglichkeiten. Als Fachhochschule wollen wir uns daran beteiligen, Lösungen  zu finden.

Ursula Blosser: Wie aus dem Leitbild der ZHAW deutlich wird, ist uns die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft ein zentrales Anliegen. Das bedeutet, dass unsere Mehrspartenfachhochschule nicht nur technisch-wirtschaftliche Fragen und Lösungen ins Zentrum stellen will, sondern auch das sozialwissenschaftliche Potenzial konstruktiv nutzt. Eine kohäsive Gesellschaft schafft in verschiedener Hinsicht einen Mehrwert. Es lohnt sich darum, sich einiger Grundpfeiler bewusst zu sein und ihnen Sorge zu tragen. Das sind zum Beispiel Arbeitsfrieden und Rechtssicherheit, die eine Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität bilden. Oder die gelebte Demokratie, der wir verpflichtet sind. Sie baut auf einer engagierten Zivilgesellschaft auf.

Auffällig viele Politiker, aber auch Wirtschaftsleute – etwa am WEF – äussern Sorgen hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Worauf führen Sie das zurück?

Piveteau: Die Entscheidungsträger, sei es in Wirtschaft oder Politik, machen genau diese Überlegungen, wie sie Ursula Blosser gerade formuliert hat. Egal welcher politischen Couleur oder welcher wirtschaftlichen Theorie man anhängt: Man muss anerkennen, dass die Stabilität einer Gesellschaft ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Demokratie und Wirtschaft ist. Stabilität erreicht man, indem man vermeidet, dass grössere Gesellschaftsgruppen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

Blosser: Die globalen Entwicklungen bringen neue starke Player wie zum Beispiel China hervor, die früher in unserer Wahrnehmung marginal waren. Europa bemüht sich, im Ringen der Grosskräfte seine Position zu wahren. Und es ist auch bezüglich der eigenen Kohäsion stark herausgefordert. So verändern sich zum Beispiel die Vermögensverhältnisse. Die Reichen sind reicher geworden; ihr Vermögen ist im vergangenen Jahr um mehr als 10 Prozent gestiegen. Auch in der Schweiz öffnet sich die Lohnschere seit Mitte der 90er Jahre. Die Topsaläre sind seit 1996 nach Abzug der Teuerung um rund 43% gestiegen. Der mittlere Lohn nahm bloss um 14 Prozent zu. Die tiefsten Löhne konnten zwischen 2012 und 2014 dank einer Tieflohnkampagne mit 16 Prozent leicht zulegen. Die Statistiken über die Vermögensverteilung in der Schweiz zeigen auf, dass in diesem Jahr 41 Prozent des Gesamtvermögens in den Händen der Reichen liegt. Das sind rund 5 Prozent mehr als im Jahr 2003. Die Prosperität ist nicht gleich verteilt. Jene, die nicht am Wohlstand teilhaben können, haben aber Informationen darüber. Das führt zu Spannungen.

Auch die Mittelschicht als Stabilisator einer wohlhabenderen Gesellschaft wird geschwächt. Das schürt eine Politik der Wut.

Blosser: Die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg oder davor, seinen Kuchen mit noch mehr Leuten teilen zu müssen, wächst. Das fördert Ideologien und gefährdet sowohl die Demokratie als auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Driftet die Gesellschaft auseinander?

Piveteau: Ich bin grundsätzlich optimistisch. Die Theorie des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty stimmt jedoch nachdenklich. Er zeigt Parallelen zu Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert bei der Entstehung der ersten urbanen Gesellschaften auf: Die Vermögenskonzentration nahm zu, Einkünfte aus Kapital wuchsen meist schneller als jene aus Arbeit. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir uns fragen müssen, ob wir eine neue Version dieser hochexplosiven Ära erleben. Die Theorie von Piketty ist zwar nicht ganz unumstritten. Sie bestätigt jedoch, wie wichtig das Thema soziale Kohäsion in der heutigen Zeit ist. Diese Frage ist für mich zentral und ein Thema für die Forschung, die Antworten für die Praxis liefern sollte.

Blosser: Ich denke, es besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. In der Schweiz leben wir noch auf einem hohen Wohlstandsniveau. Aber auch bei uns haben Menschen Abstiegs- und Positionierungsängste angesichts des Credos: grösser, toller, mehr von allem – nur das ist es, was zählt. Sie denken, andere seien bevorzugt oder nähmen ihnen etwas weg. Wer Angst hat, wird strenger, unnachsichtiger, vielleicht auch härter.

Sind die Sozialdetektive der Stadt Zürich ein Ausdruck davon?

Blosser: Die Debatte um die Sozialdetektive zeigt diese Entwicklung sehr schön. Klar ist es nicht in Ordnung, dass jemand Leistungen bezieht, die ihm nicht zustehen. Es wird aber mit unterschiedlichen Ellen gemessen: Tricksen bei der Steuer gilt als schick, Tricksen bei der Sozialhilfe ist pfui.

Die Enthüllungen um die «Paradise Papers» zeigen auch, wie wenig solidarisch sich gewisse Kreise mit der Gesellschaft fühlen, indem sie Vermögen ins Ausland transferieren, um Steuern zu sparen.

Blosser: Hierzulande ist dadurch weniger Geld in den öffentlichen Kassen für Infrastruktur oder soziale Leistungen vorhanden. Wenn dann noch Menschen aus anderen Kulturen zu uns kommen, weil sie Schutz suchen oder weil sie auch ein Stück des Paradieses abhaben wollen, dann wird diese Angst weiter geschürt.

Welche Kräfte können die auseinandertreibenden Eisschollen wieder zusammenführen?

Piveteau: An der ZHAW begegnen wir dieser Thematik durch unseren interdisziplinären praxisorientierten Forschungsansatz. An unserer Mehrspartenhochschule hat es sehr viele unterschiedliche Kompetenzen etwa bei den Informationstechnologien, in der Medien- und Sprachforschung, der Gesundheitsversorgung, bei Umweltschutzfragen, Governance, Diversität und gesellschaftlicher Teilhabe, um nur wenige zu nennen. Darauf können wir zurückgreifen, wenn es darum geht, einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen zu leisten.

Blosser: Das Bild der Eisschollen gefällt mir. Dass Eisschollen auseinanderdriften, steht in Verbindung mit dem Klimawandel und den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Wir können – um beim Bild zu bleiben – den Eisschollen nachjagen und versuchen, sie zusammenzufügen. Das ist viel harte Arbeit, die nicht von langfristigem Erfolg gekrönt sein kann. Ähnlich sieht es mit den Anstrengungen für eine kohäsive Gesellschaft aus: Wir müssen die dahinterliegenden Kräfte betrachten. Eine eindimensionale Lösung gibt es da wohl kaum.

Welches Verständnis von Integration liegt dem Forschungsschwerpunkt zugrunde?

Piveteau: Integriert zu sein, bedeutet, an der Gesellschaft teilzuhaben – an Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in der Freizeit, in der Politik und sprachlich. Es bedeutet, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten.

Weshalb hat man innerhalb des Schwerpunktes die vier zentralen Entwicklungsbereiche Arbeit, Diversität, Lebensraum und Soziale Sicherung gewählt?

Piveteau: Diese wurden auch mit Blick auf die interdisziplinären Potenziale der ZHAW bestimmt. Wir wollen unsere Stärken stärken.

Blosser: Lebensraum und Arbeit sind zentrale gesellschaftliche Felder. Arbeit gilt in vielen gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien als der zentrale Integrationsfaktor schlechthin und in diversen politischen Programmen als das Scharnier und Symbol dafür, gesellschaftlich integriert zu sein oder sich um gesellschaftliche Integration zu bemühen. Im Schwerpunkt haben wir aber nicht nur an Erwerbsarbeit gedacht, sondern auch an Freiwilligenarbeit. Die ökonomische Verwertbarkeit geniesst in unserer Gesellschaft einen ausserordentlich hohen Stellenwert. Dies wirft die Frage auf, was mit den Schwächeren geschieht. Was ist, wenn nur noch das Gesetz des Stärkeren gilt? Welche Auswirkungen hat das auf demokratische Gesellschaften?

Piveteau: Ich denke, die technisch-wirtschaftliche Innovation war immer eine wichtige, meistens sogar die treibende Kraft für gesellschaftliche Entwicklung, zumindest in unserer westlichen Welt. Und immer dann, wenn diese treibende Kraft nicht von integrativer sozialer Innovation begleitet wurde, gab es gesellschaftliche Probleme. Eine starke Anerkennung der technischen Innovation ist grundsätzlich nicht falsch. Falsch wäre, wenn sie nicht von sozialer Innovation begleitet würde.

Blosser: Die Bedeutung technisch-wirtschaftlicher Innovationen will ich gar nicht schmälern. Wir neigen in der heutigen Zeit jedoch dazu, diesen einen Teil als bestimmender und wertvoller zu beurteilen als den integrativen Teil. Facebook ist ein gutes Beispiel dafür. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Facebook-Gründer um Zuckerberg ihre coolen Technologien entwickelt und verbreitet haben und immer mehr Erfolg hatten, ohne an die gesellschaftlichen Folgen zu denken. Das ist Zeichen einer nicht integrierten Denk- und Handlungsweise. Fachhochschulbildung muss darauf abzielen, ein Verständnis von grösseren Zusammenhängen zu vermitteln.

Piveteau: Unser Hochschulauftrag ist, zwei Typen von Aktivitäten zu verknüpfen. Die eine ist jene, die Innovation vorantreibt, die andere macht Innovation zukunftsfähig. Diese beiden Aktivitäten bedingen sich gegenseitig. Mag sein, dass die Wertschätzung in manchen Kreisen einseitig ist, da stimme ich dir zu. Aber meine These war: Die technische Innovation ist die treibende Innovation. Wenn sie nicht stattfindet, dann können wir auch die gesellschaftliche Innovation nicht vorantreiben.

Blosser: Und wenn die soziale Innovation nicht stattfindet, kann die technische Innovation langfristig nicht bestehen. In diesem Sinne kann man sagen, die soziale Innovation ist auch treibend, aber auf eine andere Weise.

Piveteau: Mit unserem neuen Forschungsschwerpunkt und mit unserer Strategie haben wir ja gezeigt, dass unser Verständnis von Innovation breiter ist und soziale Innovationen einschliesst. Der ganzheitliche Ansatz ist ein ganz wesentlicher Teil, von dem, was eine Fachhochschule wie die ZHAW ausmacht.

Für gesellschaftliche Integration ist Bildung ein zentraler Faktor. Was tragen Fachhochschulen dazu bei?

Piveteau: Fachhochschulen haben im Schweizer Bildungssystem eine integrative Rolle. Sie ermöglichen im Vergleich zum klassischen universitären Bereich mehr jungen Menschen, die aus Haushalten stammen, in denen kein Elternteil eine Hochschulausbildung hat, eine Tertiär-Ausbildung. Auch viele Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation machen bei uns einen Abschluss. Das ist einer der Werte, die wir pflegen müssen – und auch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen.

Blosser: Ich denke, als Fachhochschule ist es auch unsere Aufgabe und unser Auftrag, Zusammenhänge aufzuzeigen – nicht anklagend, sondern aufklärerisch: Wie kommt es zu dieser Entsolidarisierung in der Gesellschaft, zu Ideologisierung und Abschottung? Was sind die Hintergründe? Was hat sich verändert? Wie können wir Mitwirkung und Mitgestaltung in unserer Gesellschaft ermöglichen? Wir müssen Bildungszugänge verbreitern. Und das meine ich nicht im Sinne eines unreflektierten Sozialgrooves, sondern ich denke an jene, die motiviert und leistungsbereit sind, aber hierzulande auf diskriminierende Strukturen stossen wie beispielsweise eine Längsschnittstudie mit Beteiligung der ZHAW über Secondos in der Schweiz zeigt.

Akademisierung ist auch schon fast ein Schimpfwort geworden: Es wird kritisiert, dass sozial- und geisteswissenschaftliche Berufe einen Bachelor oder Master erfordern oder dass Fachhochschulen zu wissenschaftlich werden. Was entgegnen Sie diesen Kritiker?

Blosser: Jenen, die den Begriff Akademisierung als verunglimpfendes Kampfmittel brauchen wollen, entgegne ich nichts, denn die wollen es nicht wirklich hören. Und jenen, die von misslungenen Kontakten mit Vertretern der Wissenschaft erzählen, höre ich interessiert zu und erörtere mit ihnen, was sie und wir machen könnten. Meistens finden wir gute Beispiele, die zeigen, dass Wissenschaft und Praxis gemeinsam Lösungen erarbeiten können.

Piveteau: Ich sehe das ähnlich: Wichtig ist, bei diesem Diskurs über Akademisierung zwei Dinge zu trennen. Zum einen ist das die Problematik, dass die Herausforderungen in vielen Berufen in den letzten Jahrzehnten so viel komplexer geworden sind in einer Gesellschaft, die ebenfalls viel komplexer geworden ist. Berufsleute brauchen deshalb eine höhere Qualifikation – sei es im Technik-, Sozial- oder Gesundheitsbereich. Ich mache ein Beispiel: Vor fast 30 Jahren war ich Angestellter in der IT-Abteilung einer Bank. Beim Empfang der neuen Mitarbeitenden haben wir einen Rundgang gemacht. Da gab es ein riesiges Grossraumbüro mit ungefähr 150 Personen, meist Frauen. Sie sassen vor dem Bildschirm und haben den ganzen Tag Einzahlungsscheine abgetippt. Diese Art der Arbeit ist innerhalb von fünf Jahren verschwunden mit der Einführung des Online-Bankings.

Blosser: Das machen wir jetzt nach Feierabend.

Piveteau: Ich wollte damit zeigen, wie sich in einem Unternehmen wie einer Bank das Jobprofil wandelte und die Erwartungen an Mitarbeitende gewachsen sind. Viele Jobs, bei denen nur der Umgang mit Computern gefragt war, ohne dass jedoch spezifische Informatikkenntnisse erforderlich waren, sind verschwunden. Dieses Beispiel lässt sich auch auf andere Bereiche im Sozialbereich, im Gesundheitsbereich etc. übertragen. Der zweite Aspekt ist die Frage der Profilierung. Es gibt Leute, die behaupten, Fachhochschulen würden zu kleinen Universitäten. Das stimmt nicht. Unsere Ausbildungsprofile bleiben deutlich unterschiedlich. Aber was stimmt: An den Fachhochschulen wird anwendungsorientierte Forschung gemacht, und zwar gute Forschung. Eine Hochschule ohne Forschung ist keine Hochschule. Und zum anderen ist das duale Bildungssystem, wie wir das in der Schweiz haben, ein Erfolgsfaktor für unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Davon bin ich überzeugt. Über die Berufslehre kann man jetzt bis zum Doktortitel kommen, wie über die gymnasiale Maturität auch. Dass es zwischen diesen beiden Wegen einen Transfer gibt, ist wichtig. Für diese Durchlässigkeit im Bildungssystem lohnt es sich zu kämpfen. Das ist ein Wert, den wir schützen müssen.

Hochschulmagazin ZHAW-Impact

«Gesellschaftliche Integration» lautet das Dossierthema der Juni-Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact.

Eine Auswahl der Themen: Welche Karrieremöglichkeiten bieten Unternehmen für Mitarbeitende 49+? Wie fair sind Sozialversicherungen in der Schweiz? Welche Wechselwirkung besteht zwischen der Gestaltung von Räumen und menschlichem Verhalten? Wie kann man ältere Migrantinnen und Migranten aber auch junge Secondos unterstützen? Wenn immer mehr junge Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden, wie kann man Früherkennung und Therapie fördern? Zudem lesen Sie Porträts über Menschen, die sich für den Wissenstransfer mit Namibia, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, hindernisfreie Kommunikation, ethische Managementausbildung und mehr Frauen in MINT-Fächern engagieren.

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