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Ethik im Studium: Es beginnt mit einer Irritation

Ob Hebamme, Sozialarbeiter, Lebensmitteltechnologe oder Managerinnen: Die meisten Berufsleute sind in ihrem Alltag mit ethischen Fragen konfrontiert. Die ZHAW will Studierende darauf vorbereitet, ihr Können verantwortungsbewusst in Entscheide umzusetzen.

Mit Simulationspuppen üben angehende Hebammen schwierige Situationen.

Impact Oktober 2018

Astrid erwartet ihr zweites Kind. Die erfolgreiche Kabarettistin und ihr Mann sind voller Vorfreude. Dann erfahren sie, dass ihr Baby das Down-Syndrom haben wird. Die Diagnose wirft sie aus der Bahn. Wie wird ihr Leben mit einem behinderten Kind aussehen? Werden sie dessen Bedürfnissen gerecht werden können? Gemeinsam entscheiden sie sich für das Ungeborene. Als die Vorfreude langsam zurückkehrt, offenbart eine weitere Untersuchung das ganze Ausmass der Behinderung. Das Kind hat einen schweren Herzfehler und wird stark beeinträchtigt sein. Wird es ein lebenswertes Leben haben? Astrid und ihr Mann denken über eine Spätabtreibung nach.

Kein Richtig und kein Falsch

«24 Wochen», ein Film von Anne Zohra Berrached, ist kürzlich im Bachelorstudiengang Hebamme gezeigt worden. Die Drehbuchautorin und Regisseurin war dabei anwesend, ebenso eine leitende Gynäkologin und ein Theologe. Der Film habe die angehenden Hebammen beeindruckt und betroffen gemacht, sagt Kristin Hammer, die im Bachelorstudiengang Hebamme für das neu entwickelte Konzept Medical Humanities verantwortlich ist. «Er thematisiert Fragen, die für alle, die im medizinischen Bereich arbeiten, bedenkenswert sind.» Ungewöhnlich dabei ist, dass die Regisseurin das medizinische Personal ausschliesslich unter Laien rekrutiert hat. Ärzte, Krankenschwestern und Psychologen treten in jenen Rollen auf, die sie in ihrem Berufsleben tatsächlich ausüben.
Die Regisseurin nehme ein Tabuthema auf, sagt die ZHAW-Dozentin. Mit Spätabtreibungen seien Hebammen immer wieder konfrontiert. Es erfordere viel Empathie, Frauen in derart schwierigen Situationen zu begleiten, in denen es kein Richtig und kein Falsch gebe. «Hebammen gehen  offen und wertfrei auf die Betroffene zu», so Kristin Hammer. Man müsse der Frau die Hilfe geben, die sie brauche, und die eigenen Wertvorstellungen auch einmal zurückstellen. Ein interdisziplinärer Austausch, wie ihn die beschriebene Lehrveranstaltung ermöglicht habe, könne die Augen für andere Perspektiven öffnen.

«Sie müssen andere Ansichten respektieren und ihre eigene Haltung laufend weiterentwickeln..»

Ruth Esther Eggenschwiler

Hebammen müssten unterschiedlichen Lebensformen gegenüber tolerant sein, bekräftigt Ruth Esther Eggenschwiler, die für den Ethikunterricht verantwortlich ist. Sie könnten sich in der Regel nicht auswählen, wen sie begleiteten. «Sie müssen andere Ansichten respektieren und ihre eigene Haltung laufend weiterentwickeln.»
Ethische Fragen spielen im Studium Hebamme eine wichtige Rolle. Im Modul «Berufsrolle» lernen die angehenden Fachfrauen theoretische Modelle sowie den internationalen Ethik-Kodex für Hebammen kennen und müssen diese an Fallbeispielen anwenden. Aber auch im Training praktischer Fertigkeiten, wenn sie etwa darin geschult werden, eine Frau während der Geburt zu betreuen, ergeben sich Diskussionen über moralisch vertretbares Handeln. Auf Wertkonflikte stosse man auch dort, wo man sie weniger erwarte, sagt Eggenschwiler. Beispielsweise dann, wenn es darum gehe, eine Geburt einzuleiten oder das Datum für einen Kaiserschnitt festzulegen.

«Situationen, die ungute Gefühle auslösen, können eine ethische Komponente haben.»

Muriel Keller

Medizinethische Prinzipien

«Situationen, die ungute Gefühle auslösen, können eine ethische Komponente haben», sagt Muriel Keller, die an der ZHAW Physiotherapie unterrichtet. Mit einem Kollegen hat sie eine Entscheidungshilfe entwickelt, um Ethiktheorien im Berufsalltag anzuwenden. Sie erwähnt das häufige Beispiel, dass sich ein Patient, der mobilisiert werden soll, nicht behandeln lassen möchte. Wie viel Druck darf ein Therapeut in einem solchen Fall ausüben? Wie weit geht seine berufliche Pflicht, und wann muss er den Wunsch des Patienten akzeptieren?
Die Autoren des Buches «Ethik für medizinische Berufe» empfehlen, eine derartige Situation in einem ersten Schritt genau zu beschreiben. Darauf gilt es, mehrere Handlungsalternativen zu formulieren und diese anhand der medizinethischen Prinzipien «Respekt vor der Autonomie», «Nicht-Schaden», «Fürsorge» und «Gerechtigkeit» zu betrachten und zu gewichten. Schliesslich folgt die Umsetzung des Entscheids. Im erwähnten Beispiel könnte der Therapeut versuchen, den Patienten zu einem anderen Zeitpunkt zur Therapie zu motivieren, oder das Gespräch mit dem behandelnden Arzt suchen und auf die Massnahme verzichten. «Der Raster hilft dabei, nichts zu übersehen», so Muriel Keller.
Die Physiotherapie-Studierenden bringen im Ethikunterricht eigene Erlebnisse zur Sprache. In den Praktika sehen sie sich mit Ansprüchen von Patienten, Angehörigen, Teammitgliedern und Vertretern anderer Berufsgruppen konfrontiert. Viele müssen erst lernen, ihre Standunkte zu vertreten. Dabei geht es häufig um Fragen von Nähe und Distanz, Gerechtigkeit oder Vertraulichkeit. Oft sind besonders vulnerable Gruppen wie etwa demente Menschen involviert.

«Sozialarbeiter, die sich gegen problematische Entwicklungen in der Sozialhilfe und in der Sozialpolitik wehren, müssen gut argumentieren können.»

Silke Vlecken

Werturteile als solche erkennen

Mit solchen haben Sozialarbeitende ebenfalls zu tun. Eine hohe Professionalität sei daher unabdingbar, sagt Silke Vlecken, Dozentin für Methoden der Sozialen Arbeit. Die Studierenden müssten dazu befähigt werden, mit unterschiedlichen Lebenswelten umzugehen. «Sie dürfen den Klienten nicht die eigenen Werte überstülpen, sollten Werturteile als solche erkennen und ihre Handlungen fachlich begründen.» Im Modul «Rechtliche und ethische Grundlagen der Sozialen Arbeit» werden ihnen ethische Prinzipien des Berufsstandes vermittelt und internationale Übereinkommen wie etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorgestellt. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», sagt Silke Vlecken, die das Buch «Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit – Schwerpunkt Menschenrechte» mitherausgegeben hat. Ein Leben in Würde sei möglich, wenn biologische, psychische sowie sozialen Bedürfnisse befriedigt würden. Auf welche Art und Weise dies getan werde, unterscheide sich individuell und kulturell. Menschen in Notlagen würden von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in deren Bewältigung unterstützt und dabei angemessen beteiligt. Die Fachleute seien oft in einem Spannungsfeld tätig, stellt die ZHAW-Mitarbeiterin fest. Sie nähmen neben der unterstützenden zuweilen auch eine kontrollierende Funktion wahr. Bei der Sozialhilfe seien beispielsweise existenzgefährdende Sanktionen möglich. «Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die sich gegen problematische Entwicklungen in der Sozialhilfe und in der Sozialpolitik wehren, müssen gut argumentieren können.»

«In einem Wertekonflikt sind ein sorgfältiges Abwägen von Ansprüchen und Interessen und eine differenzierte Argumentation wichtig.»

Thomas Goetz

Die Studierenden diskutierten mit Interesse über ethische Themen, sagt Thomas Goetz, der am Departement Life Sciences und Facility Management für das Fach Kultur, Gesellschaft, Sprache zuständig ist. «Sie haben ein Bedürfnis nach Orientierung.» Einzelne hätten die Vorstellung, nach dem Unterricht genau zu wissen, was richtig und was falsch sei. Nach vielen Diskussionen werde aber klar, dass ethische Entscheide nur durch die Vermittlung unterschiedlicher Positionen zustande kommen. «In einem Wertekonflikt sind ein sorgfältiges Abwägen von Ansprüchen und Interessen und eine differenzierte Argumentation wichtig», sagt Goetz. Sein Ziel ist es, die Studierenden dazu zu befähigen, andere Perspektiven einzunehmen, eine eigene Position zu finden und diese in schwierigen Debatten plausibel zu vertreten. «Es geht um Haltungen, weniger um Fachwissen.»

«Man muss Betroffene zu Beteiligten machen.»

Alessandro Maranta

Alessandro Maranta, Stabsstellenleiter des Ressorts Lehre, betont, dass es nicht reiche, die theoretischen Grundlagen eines Fachs und deren Anwendungen zu vermitteln. Die ZHAW müsse den Studierenden ein Verständnis mitgeben, ihre eigene Expertise mit anderem Wissen zu verbinden, und dabei auch Grenzen des eigenen Fachwissens bewusst machen. «In dem Moment, in dem die Absolventen in die Praxis gehen, haben sie es mit anderen Menschen zu tun ‒ und diese können unterschiedliche Ansichten und Erfahrungen haben.» Andere Argumente ernst zu nehmen und in Entscheide einzubeziehen, entspreche einem verantwortungsbewussten Handeln. «Man muss Betroffene zu Beteiligten machen», so Maranta. Die Hochschule müsse zudem zukunftsgerichtet ausbilden. Viele Professionen veränderten sich, zurzeit vor allem aufgrund der Digitalisierung. «Fachkräfte sollten fähig sein, solche Entwicklungen umsichtig mitzugestalten.»

Verantwortungsvolle Managerausbildung

Weil etwa Unternehmen heute neben ihrem wirtschaftlichen Erfolg auch nachhaltig und gesellschaftlich verantwortlich agieren, sind auch Hochschulen in der Ausbildung von angehenden Managerinnen und Managern besonders gefordert: «Es muss unsere Aufgabe sein, unseren Studierenden als Teil der betriebswirtschaftlichen Ausbildung Fachwissen zu den Zusammenhängen eines Wirtschaftens im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zu vermitteln und ihnen Methoden mit auf den Weg zu geben, dieses Wissen in der Praxis erfolgreich anzuwenden», sagt Marie-Christin Weber von der ZHAW School of Management and Law (SML). «Wir müssen unsere Studierenden in ihrer Entwicklung hin zu verantwortungsvollen Fach- und Führungskräften unterstützen und sie bereits während ihrer Ausbildung für Themen wie Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung sensibilisieren.»  Deshalb ist die SML seit vier Jahren Mitglied der United Nations-Initiative «Principles for Responsible Management Education» (PRME). Dieser Initiative sind derzeit weltweit mehr als 700 Hochschulen aus 86 Ländern angeschlossen. Ihre Vision ist, über die Ausbildung zu verantwortlichem Management beizutragen, die 17 Uno-Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu realisieren. Studierende sollen befähigt werden, «dauerhafte Werte für Unternehmen und für die Gesellschaft als Ganzes zu schaffen und sich für eine nachhaltige Weltwirtschaft einzusetzen», sagt Marie-Christin Weber, die an der SML verantwortlich ist für die Umsetzung der PRME-Initiative.
Alle zwei Jahre muss ein Fortschrittsbericht erstellt werden. Danach wurden an der SML seit dem Beitritt  in über 35 Kursen Fragen zur Verantwortung und Nachhaltigkeit behandelt und die drei Forschungsschwerpunkte Corporate Responsibilty (CR) Management, Diskriminierungsschutz und Diversity sowie Enabling Energy Transformation definiert. In einem weiteren Projekt, das Ende 2018 starten soll, wird das gesamte Lehrangebot an der  SML unter die Lupe genommen mit Blick auf CR-Themen. Auch die Studierenden selbst wurden jüngst aufgerufen, als Botschafter für die Ausbildung zu verantwortungsvollen Führungskräften zu agieren: In einem Videowettbewerb im Oktober, den die  SML zusammen mit fünf weiteren Hochschulen lanciert hat, konnten sie ihre Vorschläge unterbreiten, wie sie selbst zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten ausgebildet und auf die beruflichen Anforderungen vorbereitet werden möchten und welche Fähigkeiten sie dafür brauchen, um als Fach- und Führungskräfte nachhaltig erfolgreich zu sein.

Autorin: Eveline Rutz

Hochschulmagazin ZHAW-Impact

«Ethik» lautet das Dossier-Thema der aktuellen Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact. Wir berichten über den Besuch des Dalai Lama an der ZHAW und seinen Appell, in der Bildung mehr Gewicht auf innere Werte zu legen. Wir zeigen welchen Stellenwert Ethik im Studium und in der Forschung an der ZHAW hat. Eine Themenauswahl: Medizinische Berufe zwischen Fürsorge und Patientenautonomie, zwischen Leben erhalten und Sterbefasten. Architektur zwischen Design und Stadtreparatur. Big Data zwischen fairen und diskriminierenden Algorithmen. Bei solchen Dilemmata kann Ethik helfen, diese einzuordnen, Handlungsmuster zu überdenken, um letztlich angemessene Entscheidungen treffen zu können.