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Der Fairness bei Versicherungen auf der Spur

In der Sozialversicherung sollen Mitwirkungsrechte ein faires Verfahren garantieren. Doch viele Versicherte nehmen ihre Rechte nicht wahr.

Oft sind es Fälle von grosser Tragweite, über die bei der obligatorischen Unfallversicherung (UV) und bei der Invalidenversicherung (IV) entschieden wird. Gibt es nach einem Unfall oder nach einer längeren Krankheit eine Rente? Ist es möglich, die betroffene Person umzuschulen – oder gibt es andere Möglichkeiten, damit nach einer längeren Absenz die Rückkehr in den Arbeitsmarkt möglich ist? In komplexen Fällen entscheidet meist ein medizinisches Gutachten über solche Fragen. Die kantonalen IV-Stellen gaben 2016 schweizweit 15‘678 externe Gutachten in Auftrag. Bei der obligatorischen Unfallversicherung sind es weniger: Die Suva lässt jährlich rund 350 externe Begutachtungen durchführen; von den Privatversicherern fehlen Zahlen.

Die Versicherten sind der Begutachtung nicht einfach ausgeliefert. Sie haben gewisse Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Diese Mitwirkungsrechte sollen ein faires Verfahren gewährleisten, wie das Bundesgericht vor elf Jahren ausdrücklich festhielt. Ein Versicherter kann etwa neue Gutachter vorschlagen, Ergänzungsfragen stellen, die Begutachtung an sich ablehnen oder neue Fachdisziplinen beantragen. Was so positiv klingt, fällt in der Praxis häufig ernüchternd aus.

Versicherte nehmen Rechte nicht wahr

«Die Versicherten nehmen vor allem in der Invalidenversicherung ihre Mitwirkungsrechte kaum je wahr», sagt Professor René Wiederkehr vom Zentrum für öffentliches Wirtschaftsrecht (ZOW) der ZHAW-School of Management and Law. Das zeigten empirische Erhebungen bei acht kantonalen IV-Stellen. Die Daten stammen aus einem von Nationalfonds und Suva unterstützten Forschungsprojekt, an dem Wiederkehr beteiligt war. «Unter Umständen verlieren die Versicherten dadurch Leistungen, auf die sie Anrecht hätten, etwa auf eine IV-Rente oder eine Integritätsentschädigung», erklärt er. Nicht nur das Verfahrensrecht erweist sich damit in wichtigen Punkten als unwirksam. Das ganze System der sozialen Absicherung droht ins Leere zu laufen, wenn die Verfahrensfairness auf der Strecke bleibt.

Warum nehmen die Versicherten ihre Rechte nicht oder kaum wahr? Genau diese Frage will Wiederkehr im Projekt «Integration durch faire Verfahren: Zur Funktion der Verfahrensgerechtigkeit im Bereich der sozialen Sicherung» untersuchen. Geplant sind Interviews mit Anwälten, Richtern oder Fachpersonen der IV, der Suva oder des Bundesamts für Sozialversicherung. Ziel ist es, Elemente eines fairen Verfahrens zu entwickeln. Bei Versicherten, die durch einen Anwalt vertreten sind, stellt sich das Problem nicht. Sie nutzen ihre Rechte viel häufiger. Doch ohne Anwalt verstehen viele Versicherte offenbar kaum, wie sie sich einbringen können. Eine solche Zweiklassengesellschaft findet Wiederkehr «problematisch». Der Staat müsse sich so organisieren, dass eine strukturelle Individualgerechtigkeit sichergestellt sei. Als mögliche Lösung sieht er ein erweitertes Transparenzprinzip, eine Aufklärung und Beratung betroffener Personen, und zwar in einer verständlichen, bürgernahen Sprache. «Merkblätter, die man ohne anwaltliche Hilfe nicht versteht, bringen nichts», sagt der Experte.

Ein Spannungsfeld gilt es dabei im Auge zu behalten: Es geht um Massenverfahren, bei denen der Effizienzgedanke im Vordergrund steht. Nehmen die Versicherten ihre Mitwirkungsrechte wahr, drohen in Tausenden, ja Zehntausenden von Fällen Verzögerungen. Ist den Versicherten gedient, wenn sich der Entscheid um Monate oder gar Jahre verzögert? «Wir wollen Modelle entwickeln, die der Effizienz und der Fairness gerecht werden», entgegnet Wiederkehr. Zugleich verweist er darauf, dass eine bessere Integration der Versicherten die Gesamtlänge der Verfahren auch verkürzen kann. Nämlich dann, wenn der Entscheid nicht angefochten wird, weil die Einwände der versicherten Person angehört worden sind und das Verfahren insgesamt als fair empfunden wird.

Autor: Thomas Müller

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