Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

Im Anderland: Menschen mit Demenz und ihre Welt

Demenzkranke leben in ihrer eigenen Wirklichkeit. Pflegende und Angehörige tun gut daran, diese gelten zu lassen. Ständiges Korrigieren erzeuge nur Stress, sagt Pflegedozentin Gerda Neumeyer.

Auszug aus ZHAW-Impact vom Dezember 2017

«Stellen Sie sich vor», sagt Gerda Neumeyer, «Sie kommen in einer asiatischen Grossstadt an.» Menschenmengen, zahllose Eindrücke, Lärm. Keine Ahnung, wohin, und die Blase drückt. Fragen funktioniert nicht, weil kein Mensch mich versteht. «Ungefähr so könnte es sich anfühlen, demenzkrank zu sein», sagt Neumeyer, Dozentin für Pflege am Departement Gesundheit der ZHAW. Und die Verwirrung lässt nicht mehr nach, nimmt vielmehr mit fortschreitender Erkrankung noch zu. Grund dafür ist der Abbau von Hirnfunktionen: Denken, Gedächtnis, Lernen, Orientierung und Sprache werden beeinträchtigt. In welcher Wirklichkeit leben Menschen mit Demenz, wenn Raum, Zeit und Bekanntes sich auflösen?

«Jeder Mensch durchläuft die Demenz auf individuelle Weise.»

Gerda Neumeyer

Das lasse sich nicht pauschal beantworten, sagt Neumeyer. Sie war früher selbst als Pflegeexpertin auf einer geschützten Demenzstation tätig und weiss: «Jeder Mensch durchläuft die Demenz auf individuelle Weise.» Die Krankheit verläuft nicht immerlinear, Phasen kognitiver Einbussen wechseln mit solchen der Klarheit ab. Mehr und mehr gleiten die Menschen dann in ihre eigene Welt ab. Fast alle werden unruhig, viele kehren in die Vergangenheit zurück. Die 90-jährige Witwe ist wieder Tochter, Mutter mit Kleinkindern, berufstätig, Ehefrau – während sie vergessen hat, was vor einer Stunde war. «Das Kurzzeitgedächtnis versagt seinen Dienst früher», erklärt Neumeyer das Phänomen. Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis stünden länger zur Verfügung.

Betreuungskonzept Validation: Empathie und Wertschätzung

Am Ende wirken Menschen mit Demenz oft teilnahmslos. «Doch sie nehmen immer noch vieles wahr und haben Gefühle», unterstreicht die Expertin, «sie sind nur nicht mehr in der Lage, sich verbal auszudrücken.» Zugang zu den Lebenswelten Demenzkranker zu finden, ist für Pflegende und Angehörige eine stetige Herausforderung. Ein Patentrezept gibt es laut Neumeyer nicht, auch keine eindeutige wissenschaftliche Evidenz. Das Beobachtungswissen der Pflegenden zähle genauso wie die Reaktionen der Betroffenen selbst. Diese könnten von Tag zu Tag ändern, manchmal ändern sie von einem Moment auf den anderen.

Neumeyer begrüsst deshalb, dass inzwischen eine ganze Reihe von Pflege- und Betreuungskonzepten für Demenz vorliegen: «Je mehr geeignete Methoden wir im Rucksack haben, desto besser.» So könne immer wieder neu herausgefunden werden, was Wirkung erziele. Bewährt haben sich sogenannt validierende Kommunikations- und Umgangsformen mit Demenzkranken. Sie setzen auf Empathie und Wertschätzung und werden von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)empfohlen. Begründerin der Validation ist die amerikanische Sozialarbeiterin Naomi Feil, die deutsche Gerontologin Nicole Richard entwickelte sie weiter. Seit kurzem gibt es auch eine Schweizer Variante.

«Ich muss los, den Hasen metzgen»

Die Validation werde etwas gar stark vermarktet, stellt Neumeyer fest, doch der Grundsatz sei sinnvoll: dass Pflegende und Angehörige die Wahrnehmung von Menschen mit Demenz respektieren. Dass Demenzkranke dort abgeholt werden, wo sie sich gerade befinden. Dass man sich in ihre Welt hineinfühlt und nicht wertet. Neumeyer erklärt es an einem selbst erlebten Beispiel. «Ich muss los, den Hasen metzgen», sagt eine Bewohnerin der Demenzstation im Morgengrauen und läuft Richtung Ausgang. Sie zu korrigieren und in die Realität zu zerren – «Sie sind nicht mehr auf dem Bauernhof, sondern im Heim, und es ist noch viel zu früh» –, würde nichts bringen, nur Stress und Trauer über den Verlust auslösen.

«Eines liegt gar nicht drin: Menschen mit Demenz anzulügen.»

Gerda Neumeyer

Anstatt Menschen mit Demenz ständig ihre Defizite vor Augen zu führen, gilt es ihre Antriebe und Gefühle zu erkennen. Die Pflegefachperson könnte mit einem Sprichwort antworten: «Morgenstund hat Gold im Mund.» Oder mit einer allgemeinen Aussage: «Die Sorge um die eigene Familie bleibt halt ein Leben lang.» Denkbar ist auch eine Bezugnahme auf die Biografie: «Sie waren sicher eine gute Bäuerin.» So könne man auf die demenzkranke Person eingehen, ohne sie aber in ihrer – jedenfalls aus Sicht der kognitiv Gesunden – «falschen» Wahrnehmung zu bestätigen. Ganz im Gegenteil. Kommt die demenzkranke Ex-Landwirtin ins Erzählen von früher, wird sie über diesen Umweg womöglich wieder an die Wirklichkeit herangeführt. Im besten Fall legt sich dabei die Unruhe.

Validation setzt jedoch ein gewisses Sprachvermögen bei den Erkrankten voraus. Bei allem Mitgehen in die Welt der Demenz, das Anderland, liege aber eines nach Ansicht von Neumeyer überhaupt nicht drin: Menschen mit Demenz anzulügen. Ob fiktive Bushaltestellen im Demenzgarten des Heims oder Pflegende, die in «Demenzdörfern» Ladenverkäufer mimen – Betreuungskonzepte, die eine Realität vorgaukeln, erachtet sie aus ethischer Sicht problematisch: «Menschen mit Demenz sind eine vulnerable Gruppe. Sie müssen der Pflege vertrauen können.» Zudem bestehe die Gefahr, dass die Inszenierung in luziden Momenten durchschaut werde. Doch die Fachwelt ist uneins. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften will es in neuen Demenzrichtlinien für «moralisch zulässig» erklären, virtuelle Realitäten zu simulieren. Entscheidend sei die fürsorgerische Absicht dahinter.

«Im Umgang mit Demenzkranken braucht es Kreativität und Phantasie.»

Gerda Neumeyer

Andere Kommunikation in der letzten Krankheitsphase

Einen gewissen Pragmatismus lässt auch Neumeyer gelten. Das Bahnabteil, in dem eine Betreuerin den Demenzkranken auf eine fiktive Zugreise mitnimmt, oder die Roboter-Kuschelrobbe Paro – solches sei in Ordnung, solange den Leuten nicht weisgemacht werde, sie sässen wirklich im Zug oder wiegten ihr Haustier. «Im Umgang mit Menschen mit Demenz braucht es Kreativität und Phantasie», so die Dozentin. Das gelte gerade für die letzte Krankheitsphase, wo anders kommuniziert werden müsse als mit Worten. Da sorgen vielleicht Musik, Berührung, Lichteffekte oder Düfte für Wohlbefinden. Gerda Neumeyer erzählt von einem schwer demenzkranken Heimbewohner, den der Duft von Speckwürfeln in einem Verband wieder zum Essen brachte. Und von der Frau, die nur noch gekrümmt dalag: «Als ich mit ihr redete und sie sanft berührte, sah ich, wie ihr eine Träne die Wange runterlief.»

Autorin dieses Beitrages: Susanne Wenger

Scheinheilige Wahrheit

Der österreichische Autor Arno Geiger schreibt in seinem Roman «Der alte König in seinem Exil» über den alzheimerkranken Vater: «Der einzig verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm. Wir sagten so oft wie möglich Dinge, die seine Sicht bestätigten und ihn glücklich machten. Wir lernten, dass die Scheinheiligkeit der Wahrheit manchmal das Allerschlimmste ist. Sie brachte die Sache nicht weiter und diente allen schlecht. (...) Die objektive Wahrheit kam oft unter die Räder, es kümmerte mich nicht, denn sie war wertlos. Gleichzeitig gewann ich zunehmend Freude daran, wenn meine Erklärungen in den Bereich der Fiktion abgleiten durften, es gab dabei nur einen Massstab: Je beruhigender für den Vater, desto besser.»