Evaluation der Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionsmethoden bei frühkindlichem Autismus
Auf einen Blick
- Projektleiter/in : Prof. Dr. Christian Liesen
- Co-Projektleiter/in : Prof. Dr. Heidrun Karin Becker, Beate Krieger
- Projektteam : Fiona Gisler, Anja Milena Hegewald, Anja Kollmar, Dr. Larissa M. Sundermann, Julia Suter
- Projektvolumen : CHF 90'000
- Projektstatus : abgeschlossen
- Drittmittelgeber : Bund (Bundesamt für Sozialversicherungen BSV)
- Projektpartner : Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
- Kontaktperson : Christian Liesen
Beschreibung
Zur Behandlung von frühkindlichem Autismus wurden in den USA frühe intensive verhaltenstherapeutische und entwicklungsorientierte Interventionen entwickelt. Vom Bundesgericht werden solche intensiven Frühinterventionen bei frühkindlichem Autismus bisher noch nicht als wissenschaftlich geprüfte und zweckmässige medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Satz 2 IVV betrachtet. Autismusexpertinnen und -experten in der Schweiz sind jedoch davon überzeugt, dass eine möglichst frühe intensive Behandlung das Verhalten und die Fähigkeiten von Kindern mit einem frühkindlichen Autismus deutlich verbessert und am besten der Vorbereitung dient, ein möglichst unabhängiges Leben ausserhalb von Heimen zu führen. Heute wird in der Schweiz eine Vielfalt an Behandlungsmethoden angeboten, Behandlungsrichtlinien sind jedoch keine bekannt. Das BSV lancierte per 1. Januar 2014 ein fünfjähriges Pilotprojekt mit fünf bestehenden Autismuszentren in der Schweiz. Rund 130 Kinder mit der Diagnose frühkindlicher Autismus (ICD-10-Code F84.0) erhielten über zwei Jahre eine intensive Frühintervention nach ABA, ESDM oder der Mifne-Therapie.
ZIEL
Um glaubwürdige Aussagen über die Wirksamkeit der
Behandlungsmethoden bei frühkindlichen Autismus-Spektrum-Störungen
zu erhalten, gab das BSV im Mai 2017 eine Evaluation in Auftrag.
Das interdisziplinäre Projektteam, zusammengesetzt aus dem Institut
für Sozialmanagement und dem Institut für Ergotherapie, erarbeitete
Ergebnisse zu drei Hauptaspekten:
- zur wissenschaftlichen Evidenz der intensiven Frühinterventionen
- zu den Kosten und Kostenfolgen der Therapieprogramme
- zu wichtigen Faktoren im Hinblick auf die Implementierung von Frühinterventionen.
METHODIK
Die aktuell bestehende wissenschaftliche Evidenz zu intensiven
Frühinterventionen wurde durch eine Literaturanalyse
herausgearbeitet. Untersucht wurden 42 neuere systematische
Reviewarbeiten aus dem Publikationszeitraum von 2010 bis 2017 sowie
drei spezifische Europäische Guidelines. Gesamthaft bildet der
Korpus 1'287 Interventionsstudien und rund 12'650 Kinder ab
(Doppelzählungen möglich). Für die Betrachtung der Kosten und der
Kostenfolgen der Therapieprogramme wurde gleichfalls auf eine
Literaturanalyse zurückgegriffen. Zusätzlich wurden
Kosteninformationen der Autismuszentren beigezogen. Für die
Evaluation der Interventionsprogramme wurde ein Multiple Case
Study-Design gewählt: Die fünf Autismuszentren wurden als einzelne
Fälle analysiert und miteinander verglichen. Als Datenbasis standen
die Grundlagendokumente des Pilotprojektes, Selbstevaluationen der
Zentren, das Kostenmonitoring, eine empirische Datensammlung zu den
behandelten Kindern und ein projektinterner Wirksamkeitsbericht zur
Verfügung. Das Evaluationsteam führte ausserdem 13 Interviews mit
den Leitenden Ärztinnen und Ärzten und wichtigen Fachpersonen an
den Zentren. Es verwendete auch zwei Auszüge aus dem
Zentralregister der AHV/IV, einen mit den in den fünf Zentren
behandelten Kindern (pseudonymisiert) und einen mit ähnlich
erscheinenden Kindern, die zwar im Register erfasst waren, aber
keine intensive Frühintervention erhalten haben.
ERGEBNISSE
Umfangreiche verhaltenstherapeutische oder entwicklungsorientierte
Interventionen bei frühkindlichem Autismus sind wirksam. Dies ist,
trotz vieler noch offener Forschungsfragen, das wichtigste Ergebnis
der Studie. Es entspricht der höchsten Evidenzlage und wird durch
keines der analysierten Reviews in Frage gestellt.
Verhaltenstherapeutische Ansätze sind dabei eher lerntheoretisch
begründet, entwicklungsorientierte Ansätze eher
entwicklungstheoretisch. Als Best Practice gilt eine umfassende
Intervention, die verhaltenstherapeutische und
entwicklungsorientierte Therapiezugänge kombiniert. Alle fünf
Autismuszentren entsprechen den herausgearbeiteten Kriterien. Ihre
Interventionen sind umfassend in dem Sinne, dass sie sehr gezielt
und umfänglich auf dem Funktionsniveau des frühkindlichen Autismus
behandeln, wobei sie Spiel- und Verhaltenskomponenten unterstützen
und sozialkommunikative Fähigkeiten fördern. Sie sind intensiv, da
die Kinder zwischen 18 und 25 Stunden pro Woche über zwei Jahre
betreut werden und alle Programme die Eltern und das nähere Umfeld
mit einbeziehen. Bezüglich der Kosten zeigt sich, dass intensive
Frühinterventionen die Folgekosten des frühkindlichen Autismus
senken. Beispielsweise ist später vielfach eine weniger
umfangreiche Betreuung möglich und der Einkommensverlust der Eltern
wird gemindert. Auch hier sind viele Forschungsfragen offen,
dennoch ist der Befund eindeutig.
EMPFEHLUNGEN
Die Studie empfiehlt, dass in der Schweiz für alle Kinder mit
frühkindlichem Autismus ab 2 Jahren und ihre Eltern ein Angebot zur
intensiven Frühintervention zur Verfügung gestellt wird. Sie
empfiehlt, die bestehenden Programme zu unterstützen, die
aufgebauten Kompetenzen zu nutzen und die Programme weiter
auszubauen, um sie mehr Kindern und Familien zur Verfügung zu
stellen. Solange noch nicht geklärt ist, welche Kinder von welchen
spezifischen Interventionen profitieren, ist in der Schweiz eine
Vielzahl von autismusspezifischen Programmen und
Programmkomponenten zu akzeptieren, sofern sie der dargestellten
Evidenzlage entsprechen. Auch neue Zentren sollen unter dieser
Massgabe hinzukommen. Die Studie gibt ausserdem Hinweise zu den
Faktoren, die für eine Implementierung von Frühinterventionen
bedeutsam sind. Sie empfiehlt, dass Bund, Kantone und
Autismuszentren ein Modell formulieren für die Wirkungsziele der
intensiven Frühinterventionen, für die Kosten und für zentrale
Merkmale der Interventionsprogramme.
Weiterführende Informationen
Publikationen
-
Liesen, Christian; Krieger, Beate; Becker, Heidrun Karin,
2019.
Aussichtsreiche Therapien für Kinder mit frühkindlichem Autismus.
Soziale Sicherheit: CHSS.
2019(2), S. 24-27.
Verfügbar unter: https://sozialesicherheit.ch/de/aussichtsreiche-therapien-fuer-kinder-mit-fruehkindlichem-autismus/
-
Krieger, Beate; Liesen, Christian; Becker, Heidrun Karin,
2019.
Swiss nation study on early intensive behavioural interventions for young children with autism [Paper].
In:
Swiss Public Health Conference 2019, Winterthur, 28.-29. August 2019.
-
Liesen, Christian; Krieger, Beate; Becker, Heidrun Karin,
2018.
Evaluation der Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionsmethoden bei frühkindlichem Autismus.
Bern:
Bundesamt für Sozialversicherungen.
Verfügbar unter: https://www.bsv.admin.ch/bsv/home.webcode.html?webcode=R597.S320.de
-
Krieger, Beate; Liesen, Christian; Becker, Heidrun Karin,
2018.
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik.
24(11–12), S. 40-46.