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Wenn der Rettungswagen zum Gebärsaal wird

Als Geburtshelfer haben Sanitäterinnen und Sanitäter keine Routine. Ein Weiterbildungskurs des Instituts für Hebammen der ZHAW hilft ihnen, die komplexe Situation kompetent zu meistern.

Eine Simulationsübung: Eine Frau gebärt im Rettungswagen.
Im Weiterbildungskurs «Von der Wehe zur Geburt» lernen Sanitäter wie sie mit einer Geburt im Rettungswagen umgehen können.

ZHAW-Impact Nr. 36 vom März 2017

Frau Marti hat starke Wehen. Sie ist alleine zu Hause und hat niemanden, der sie ins Spital bringen kann. Sie steht vor dem errechneten Geburtstermin, ist erstgebährend und wirkt verängstigt. So lautet der Einsatzbefehl, den die Sanitäter Guillermo Ryf und Aldo Sala von der Einsatzzentrale erhalten haben. Sie fahren mit dem Rettungswagen zur angegebenen Adresse und treffen Frau Marti vor dem Haus an. Die Schmerzen setzen ihr sichtlich zu, dankbar lässt sie sich stützen. Guillermo Ryf übernimmt die Führung und spricht sie mit ruhiger Stimme an. «In welcher Schwangerschaftswoche sind sie?», will er wissen. «Nehmen Sie Medikamente, haben Sie Allergien?»
Aldo Sala holt inzwischen die Bahre. «Ich kann da nicht rauf», protestiert die Schwangere lautstark. «Nein, nein, das geht nicht!» Als sie endlich oben ist, will sie plötzlich wieder hinuntersteigen. «Bleiben Sie so, wie Sie sind, sonst wird es gefährlich», mahnt Sanitäter Ryf. Er sichert sie am Arm und schiebt sie zusammen mit seinem Kollegen behutsam zum Rettungswagen. Im Innern, geschützt vor den Blicken der Passanten, können die beiden die werdende Mutter endlich in Ruhe untersuchen. Bald geht die Geburt richtig los, schliesslich kommt das Baby gesund zur Welt.

Die Gebärende ist unberechenbar

Für einmal sind die Männer allerdings nicht zu einem Ernstfall, sondern bloss zu einer Simulation gerufen worden. Sie nehmen am eintägigen Weiterbildungskurs «Von der Wehe zur Geburt» teil, den das Institut für Hebammen der ZHAW sowie Schutz & Rettung der Stadt Zürich gemeinsam durchführen. «Konntet ihr in die Szene eintauchen?», erkundigt sich Kursleiterin Claudia Putscher, welche die Kompetenzgruppe Skills im Bachelorstudiengang Hebamme leitet. «Es war sehr realistisch», bejahen die erfahrenen Berufsleute. Schwierig fanden sie, dass die Schwangere weder zurück ins Haus noch auf die Bahre wollte. Sie sei unberechenbar und die Situation auf der Trage entsprechend gefährlich gewesen. Im Nachhinein sind sie sich einig, dass sie sich die Zeit hätten nehmen müssen, die Frau anzugurten. «Der Rettungswagen ist unsere Werkstatt», sagt ein anderer Kursteilnehmer. Daher komme wohl der Impuls, die Frau möglichst rasch in diesen geschützten Raum zu bringen.

«Da müssen wir durch»

«Die Gebärende ist nicht in einer akuten Notsituation», gibt Putscher zu bedenken. Es empfehle sich, ihren Rhythmus zu übernehmen. «Die Wehen geben den Takt vor.» Statt die Frau möglichst rasch ins Auto zu bringen, könnten die Einsatzkräfte durchaus einmal stehen bleiben und abwarten, bis eine Wehe vorbei sei. Die Pausen seien dann aktiv zu nutzen – zum Beispiel, um fünf Schritte vorwärts zu kommen. «Ihr müsst eine Gebärende direkt und klar ansprechen», sagt Putscher. Mit Sätzen wie «Ich fände es gut, wenn Sie … würden» komme man nicht weit. Es brauche eher mal ein bestimmtes «Da müssen wir jetzt durch!». Die ZHAW-Dozentin rät den Kursteilnehmenden, nach der Geburt immer mal wieder den Bauch der Frau abzutasten und zu kontrollieren, ob sich die Gebärmutter wie vorgesehen zusammenzieht. Die Phase, in der sich die Plazenta löse, sei für die Mutter die gefährlichste. «Das vergisst man schnell».
 
Nach der Analyse in der Gruppe ist ein anderes Zweier-Team an der Reihe. Dieses Mal gibt es bei der Geburt eine kleine Komplikation: Die Schulter des Babys verkeilt sich im Becken der Mutter. Das Helfer-Team leitet die Gebärende zu ein paar schaukelnden Bewegungen mit den Beinen an, damit das Baby den Weg ins Leben findet. Eine dritte Simulation in einer Wohnung rundet den praktischen Teil ab.

Kein alltäglicher Einsatz

Eine Geburt zu begleiten, stellt für Sanitäterinnen und Sanitäter eine besondere Herausforderung dar. Sie haben darin keine Routine. Von den neun Kursteilnehmenden waren zwei schon einmal als Geburtshelfer im Einsatz. Die anderen wurden zwar zu werdenden Müttern gerufen, schafften es aber noch in die Klinik ‒ oder das Baby war bereits da, als sie eintrafen. Ungewohnt ist es für die Helfer, dass sie nicht möglichst rasch etwas gegen die Schmerzen unternehmen müssen. Diese gehören zu einer Geburt einfach dazu. «Man darf sich vom Schreien nicht stressen lassen», stellt eine Kursteilnehmerin fest. Die Rettungskräfte haben es zudem nicht nur mit einer Person, sondern mit zwei zu tun. Bei beiden könnten sich gesundheitliche Probleme ergeben. Die Sanitäter sehen sich nicht zuletzt mit hohen Erwartungen konfrontiert: Vor Ort werden sie als Fachleute wahrgenommen, die wissen, was zu tun ist.
 
«Wir wollen Ihnen das mulmige Gefühl nehmen», sagt Claudia Putscher, die zusammen mit ihrer Kollegin Katharina Albert viel Fach- und Praxiswissen weitergibt. 80 Prozent der Termingeburten verliefen komplikationslos. Gerade schnelle Verläufe, wie sie bei Zweit- oder Drittgebärenden vorkämen, seien meist unkompliziert. Anders sei die Situation, wenn etwa eine Früh- oder Mehrlingsgeburt anstehe, dann müsse die werdende Mutter möglichst rasch ins Spital gebracht werden. «Sanitäterinnen und Sanitäter sind grosse Praktiker und Pragmatiker», stellt die Kursleiterin fest. Sie seien es gewohnt, mit dem zu arbeiten, was gerade vorhanden sei. Die neun Teilnehmenden hätten die Übungen kompetent gemeistert. «Das wäre in jedem Fall ganz gut herausgekommen.»

Einblick in anderes Berufsfeld

Lehrreich ist der Kurs nicht nur für die Rettungskräfte. Auch die zwei Hebammen-Studentinnen, welche die Gebärenden darstellen, profitieren. Sie sind im 5. Semester und haben bereits ein 10-wöchiges Wochenbett- und ein 20-wöchiges Gebärsaal-Praktikum absolviert. «Ich habe mich stark in die Rolle hineingegeben», sagt Aline Seeger. Sie findet es spannend, die Arbeitsweise der Sanitäter kennenzulernen. Das werde ihr in ihrem späteren Berufsalltag von Nutzen sein. Simona Baumann pflichtet ihr bei und zeigt sich von der Teamarbeit beeindruckt. «Es war klar, wer den Lead hat und ich habe mich total auf diese Person fixiert.» Mit einem Rundum-Blick hätten die Helfer die Situation rasch eingeordnet; sie habe sich stets gut betreut gefühlt. «Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, die Frau zu bestärken.»  

Autorin: Eveline Rutz

Bildstrecke: Weiterbildungskurs «Von der Wehe zur Geburt»