Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

Sexwork und Corona

10 Faktoren zur Analyse von Vulnerabilität und Resilienz in der Sexarbeit

Auf einen Blick

  • Projektleiter/in : Michael Herzig
  • Projektteam : Nina Brüesch, Nadine Khater, Manuela Müller, Carmen Steiner, Anja Trümpy, Lisa Tschumi
  • Projektvolumen : CHF 60'000
  • Projektstatus : abgeschlossen
  • Drittmittelgeber : Stiftung (Stiftung für soziale Arbeit), Interne Förderung
  • Kontaktperson : Michael Herzig

Beschreibung

Ausgangslage
Aufgrund der Corona Pandemie wurden im Kanton Zürich (Schweiz) politische Massnahmen zu deren Eindämmung beschlossen (Zeitraum März 2020-aktuell), welche auf die Lebenslage, die Lebenswelt sowie die Lebensbewältigung von Sexarbeiter*innen einen grossen Einfluss haben (z.B. Berufsverbot). Sexarbeiter*innen werden gesellschaftlich und politisch als besondere Risikogruppe identifiziert. Nebst den gesundheitlichen Risiken führt die Pandemie zu finanziellen Problemen. Wenn das Einkommen wegfällt, kein Vermögen vorhanden ist und der Zugang zu staatlichen Erwerbsersatzansprüche (Sozialhilfe oder Ansprüche aus diversen Sozialversicherungen) eingeschränkt oder verunmöglicht ist, z.B. aufgrund des Aufenthaltsstatus, drohen schnell Mittellosigkeit und Wohnungsverlust. Mediale und politische Stigmatisierung sowie soziale Isolation erhöhen die Belastung zusätzlich.

Ziele
Das Forschungsprojekt „Sexwork und Corona“ untersucht im Kontext der politischen Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus deren Auswirkungen auf die Lebenslage von Sexarbeiter*innen in der Stadt Zürich, die Lebensbewältigungsstrategien, welche sie in der Pandemie entwickelt haben, und was dies für die Wirksamkeit der Massnahmen zu Bekämpfung der Pandemie bedeutet.

Methode
Im empirischen Teil der Untersuchung wurden im April 2021 14 Fachpersonen aus Organisationen befragt, welche mit Sexarbeiter*innen als Zielklientel arbeiten und diese während der Corona-Pandemie unterstützt haben. Anhand der Aussagen der Fachpersonen konnten erste Erkenntnisse zu den Lebenslagen, Lebenswelten und der Lebensbewältigung von Sexarbeiter*innen festgehalten werden. Zudem ermöglichten diese Gespräche eine erste Einschätzung der Narrative im öffentlichen Diskurs über Sexarbeit und Corona. Im Weiteren lieferten sie Informationen über die Auswirkungen der Massnahmen auf die soziale und medizinische Unterstützung von Sexarbeiter*innen und über die deshalb erfolgten Angebotsanpassungen. Danach wurden 11 Sexarbeiter*innen befragt. Dabei variierten Geschlecht (Frauen, Männer, Trans), Aufenthaltsstatus (Sans-Papiers, 90-Tage-Visum für selbstständig erwerbstätige EU-Bürger*innen, Niederlassung B oder C, Schweizer Bürgerschaft), Herkunft (Schweiz, Deutschland, Osteuropa, ehemaliges Jugoslawien, Südeuropa, Südamerika), Art und Form der ausgeübten Sexarbeit (Strassensexarbeit, Escort, Club/Bordell/Salon, Domina). Für ein Interview nicht erreicht werden konnten Sexarbeiter*innen aus Afrika. Die Interviews basierten auf einem Leitfaden und wurden ausnahmslos vor Ort durchgeführt. Teilweise wurden die Interviews durch Fachpersonen übersetzt oder von den Interviewerinnen in einer anderen Sprache als Deutsch geführt. Dem empirischen Teil wurden eine Literaturanalyse und eine Analyse der politischen Vorstösse vorangestellt.

Ergebnis
Die vorliegende Untersuchung folgte dem Ansatz, Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsstrategien von Sexarbeiter*innen während der Corona-Pandemie im Kanton Zürich zu untersuchen. Das Konzept folgt der Definition von Björn Kraus (2014), der sich dabei auf eine etablierte Theorie innerhalb der Sozialen Arbeit von Hans Thiersch und Lothar Bönisch bezieht. Die sogenannte Lebensweltorientierung formuliert die These, dass sozialarbeiterische Interventionen wirkungsvoller sind, wenn sie sich an der Lebenswelt der Adressat*innen orientieren. In der vorliegenden Arbeit wurde diese Prämisse auf gesundheitspolitische Regulierungen während der Corona-Pandemie im Kanton Zürich angewendet. Die Frage war, ob die kantonalen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie im Sexgewerbe auf Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsmöglichkeiten von Sexarbeiter*innen abgestimmt waren. Die Antwort lautet: Nein, es wurde nicht beachtet, dass Massnahmen, die für die breite Bevölkerung gedacht waren, wie z.B. die Registrierungspflicht, bei einer bestimmten Zielgruppe in einer besonderen Lebenslage nicht funktionieren oder sogar kontraproduktiv wirken würden. In den Interviews mit Sexarbeiter*innen und Fachpersonen zeigte sich, dass die Vulnerabilität von Sexarbeiter*Innen durch die Coronakrise multidimensional bedingt war. Es waren Kombinationen verschiedener Faktoren, welche die individuelle Lebenslage, ihre Deutung und die Möglichkeiten zur Lebensbewältigung bestimmten. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass nur einzelne spezifische Faktoren (z.B. Geschlecht, Aufenthaltsstatus, Arbeitsort) die erhöhte Vulnerabilität ausmachen, sondern diese als Zusammenspiel verschiedener Dimensionen aufeinander einwirken. Empfehlungen Die empirischen Daten haben gezeigt, dass Sexarbeiter*innen stark von den Massnahmen betroffen waren, an deren Ausarbeitung sie nicht beteiligt waren. Gefässe zu installieren, an welchen Betroffene sowie Fachstellen mitwirken können, um Massnahmen zu formulieren, ist unter diesem Gesichtspunkt eine erste Empfehlung. Mitwirkung kann sowohl die Effektivität als auch die Akzeptanz solcher Massnahmen erhöhen. Auch der Austausch von Informationen und Ideen zwischen Stadt, Kanton, Bund und Fachstellen, wie etwa ein runder Tisch, wäre hilfreich gewesen. Grundsätzlich wird empfohlen, in einem ähnlichen Fall kein Berufsverbot auszusprechen und auch nicht allgemeine Hygienebestimmungen unabhängig von der besonderen Situation aus das Sexgewerbe zu übertragen. Die negativen Effekte überwiegen die positiven, insbesondere beim Versuch des Contact-Tracings mittel Registrierung der Freier. Es wäre sinnvoller, Massnahmen zu entwickeln, die auf die Situation im Sexgewerbe abgestimmt sind und darum auch umgesetzt werden können. Dazu bedarf es einer ernsthaften Auseinandersetzung der zuständigen Behörden mit Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsfähigkeiten von Sexarbeiter*innen. Das kann auch im Austausch mit involvierten Sozialarbeiter*innen oder Fachstellen erfolgen. Bei einer Einschränkung der Berufsausübung, wie dies beim Arbeitsverbot der Fall war, muss der daraus entstanden Erwerbsausfall systematisch ersetzt werden. Wird dies wie im vorliegenden Fall nicht oder bloss punktuell gemacht, entwickeln die verschiedenen Beteiligten ihre eigenen Überlebensstrategien. Das kann den eigentlichen Zielen des Arbeitsverbotes zuwiderlaufen und kontraproduktive Effekte erzeugen. Die Hilfen sollten unbürokratisch, umfassend und insbesondere nachhaltig ausgerichtet werden. Finanzielle Hilfen konnten zwar während der Pandemie durch Fachstellen ausbezahlt werden, zeigten sich jedoch nicht als nachhaltig bzw. reichten nicht für alle, die Anspruch gehabt hätten. Die Fachstellen gerieten durch die Rollenerweiterung in eine kontrollierende Rolle, was für den eigentlichen Auftrag hinderlich sein kann. Weil der Regierungsrat das Verbot verordnet hat, die Unterstützung von Sexarbeiter*innen aber Kommunen und Privaten überlassen hat, war die Situation unübersichtlich und unkoordiniert. Sowohl die gesetzlichen Bestimmungen als auch ihr Vollzug müssen einheitlich und koordiniert sein. Weder das Eine noch das Andere war während der Corona-Pandemie der Fall. Die kantonalen Regelungen waren extrem unterschiedlich, sodass es zu Verlagerungen von einem Kanton in andere kam. Und auch der Vollzug war im Kanton Zürich disparat und unübersichtlich. Das erhöhte die Wirkung der Massnahmen keinesfalls. Der Eindruck schlecht koordinierten Vorgehens entstand nicht nur in Bezug auf die Durchsetzung des Verbotes. Auch bei den unterstützenden Organisationen mangelte es zuweilen an gegenseitiger Information und Absprachen. Insbesondere hätte man sich arbeitsteilig organisieren und so die vorhandenen Ressourcen gezielter ausschöpfen können.

Publikationen