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«Reden ist Gold» Nachgeforscht: SAMS – Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung

«Meine Gründe habe ich niemandem erzählt», sagt Teresa S. heute. Die Rede ist von ihrer plötzlichen Kündigung vor drei Jahren. Ihren Job hatte sie immer gerne gemacht, und doch sah sie keine andere Möglichkeit.

Ausschnitt einer Bürosituation, in welcher eine Person mit Sehbehinderung nur einen Ausschnitt ganz scharf sieht.

Teresa S. stand mit beiden Beinen im Berufsleben, als bei ihr eine Netzhauterkrankung diagnostiziert wurde. Den Verdacht, dass etwas mit ihren Augen nicht mehr stimmte, hatte sie schon eine ganze Weile. Doch die Furcht vor der Diagnose hielt sie davon ab, früher einen Arzt aufzusuchen. Stattdessen blieb sie abends länger im Büro oder nahm Arbeit mit nach Hause. So kompensierte sie, dass sich ihr Sehvermögen schleichend verschlechterte und ihr das Arbeiten am Bildschirm nicht mehr so mühelos von der Hand ging wie früher. Erst als die Fehler deutlich zunahmen und sie zusehends gestresst wurde, zog sie die Konsequenzen und kündigte – ohne vorher mit ihrer Chefin über ihre Situation gesprochen zu haben.

Der fiktive Fall von Teresa S. basiert auf einem Interview aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt der ZHAW Soziale Arbeit im Auftrag des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (SZB). Über die berufliche Situation von Menschen, die blind oder sehbehindert sind, war zuvor in der Schweiz nur wenig bekannt, insbesondere in Bezug auf die Integration dieser Bevölkerungsgruppe im ersten Arbeitsmarkt. SAMS, die Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung, erforschte zum einen diverse berufsbezogene Gleichstellungsaspekte und zum anderen die förderlichen und hinderlichen Faktoren für eine gelingende Integration im Beruf. Wie weit sind wir schon heute, wo besteht Handlungsbedarf und was kann und muss getan werden?

Eckdaten zur Studie

Die Studie beschäftigte sich mit der Arbeitssituation von Personen, deren erste berufliche Integration bereits abgeschlossen ist und die auch mit Brille oder Kontaktlinsen nur mit starken Schwierigkeiten oder gar nicht in der Lage sind, ein Buch oder eine Zeitung zu lesen, und die sich nicht oder nur mit starken Schwierigkeiten in einer Umgebung orientieren und Gesichter erkennen können. SAMS besteht aus einer Vorstudie, fünf aufeinander folgenden Modulen sowie zwei Workshops mit Betroffenen. Die Module umfassten standardisierte telefonische sowie leitfadengestützte persönliche Interviews mit Personen, die blind oder sehbehindert sind, die Aufarbeitung des nationalen und internationalen Forschungsstands, eine Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen, Gruppendiskussionen mit Arbeitgebenden, einen Vergleich mit Daten aus der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung und anderen statistischen Erhebungen sowie eine vertiefende qualitative Analyse von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Berufsverläufen. Dieses umfassende Vorgehen stellte sicher, dass verschiedene Perspektiven zum Tragen kamen.

Naheliegendes und Unerwartetes

Die Studie hat zum einen verbreitete Vermutungen bestätigt, aber auch Überraschendes zutage gebracht. So ist beispielsweise nicht weiter verwunderlich, dass die Berufschancen mit der Qualifikation der Ausbildung steigen. Dass Männer mit Sehbehinderung offenbar bessere Berufschancen haben als Frauen mit derselben Behinderung, erscheint jedoch nicht zwingend. Und wer hätte gedacht, dass Menschen mit Sehbehinderung, die den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben, in vielen der untersuchten Aspekte gleich oder gar besser abschneiden als die Schweizer Gesamtbevölkerung? So zum Beispiel in Bezug auf ihren Anteil an Angestellten mit einem monatlichen Einkommen von 7000 Franken oder mehr sowie auf die Dauerhaftigkeit der Anstellung. Gleichstellung ist jedoch nicht erreicht hinsichtlich des Beschäftigungsgrades. So sind Menschen mit Sehbehinderung häufiger ungewollt in einem Teilzeitarbeitsverhältnis angestellt als die Schweizer Gesamtbevölkerung – zwei Drittel der Teilzeitbeschäftigten gaben an, aufgrund ihrer Sehbehinderung Teilzeit zu arbeiten. Sehr wichtig ist die Erkenntnis, dass Personen mit Sehbehinderung seltener berufliche Weiterbildungen wahrnehmen. Dies zum einen, weil das Angebot eingeschränkt ist oder die Teilnahme mühsam erkämpft werden muss, zum anderen, weil sie schon stark damit beschäftigt sind, sich in Bereichen schulen zu lassen, die ihnen die Arbeit ermöglichen oder erleichtern. Positiv zu werten ist die grosse berufliche Vielfalt der Studienteilnehmenden: Sie reicht von Journalistin über Buchhalter und Physiotherapeut bis Lehrerin und Sozialarbeiter.

Vorurteile als Hindernis – Wissen als Chance

Ein wesentlicher hemmender Faktor für die Integration von Menschen mit Sehbehinderung im Beruf sind die Vorurteile der Arbeitgebenden. Dem Zufall kommt demnach eine hohe Bedeutung zu – gerade bei Mitarbeitenden wie Teresa S., die im Laufe ihres Berufslebens an einer Sehschwäche erkranken: Wie empfänglich sind die Vorgesetzten, wie gross ihre Bereitschaft, sich zu erkundigen und nicht vor Umstellungen zurückzuschrecken? Aber auch bei Menschen, die von Geburt an eine Sehbehinderung haben, entscheiden die Offenheit und der Wissensstand der (potenziellen) Arbeitgebenden massgeblich über ihre Anstellung und Berufschancen. In beiden Fällen empfehlen sich eine proaktive Kommunikation der betroffenen Personen über ihre Sehbehinderung sowie eine höhere Sensibilisierung des Arbeitsumfelds: So können auf allen Seiten Unsicherheiten ausgeräumt werden und die Chancen, dass assistierende Technologien bereitgestellt und genutzt werden, steigen ebenfalls. Neben Fällen wie dem von Teresa S. gewann das Projektteam auch Einblicke in das Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung, bei denen die Vorgesetzten mit ihrer Haltung entscheidend zur gelungenen Integration beitrugen: Vorgesetzte, die sich erkundigten, wer Hilfe bietet und wie die betroffene Person am besten unterstützt werden kann, die den Einbezug ins Team förderten und so die Integration zur Aufgabe aller Beteiligten machten.

Vom SZB abgeleitete Massnahmen

Die Erkenntnisse aus der Studie sollen es Organisationen des Sehbehindertenwesens ermöglichen, Massnahmen abzuleiten. Mithilfe dieser Massnahmen sollen bestehende Hindernisse und Barrieren vermindert oder beseitigt werden, damit Personen mit Sehbehinderung Chancen auf ein dauerhaftes und möglichst gleichgestelltes Berufsleben haben. So hat der SZB in seiner Fachpublikation «Beruflich am Ball bleiben: mit Sehbehinderung» verschiedene Massnahmen für Arbeitgebende, Betroffene und Fachstellen abgeleitet und das Info-Set «Gut im Job» herausgegeben. Bezogen auf (potenzielle) Arbeitgebende sei vor allem Sensibilisierung nötig, um Vorurteile und Hemmschwellen abzubauen. Oft wissen Vorgesetzte nämlich gar nicht, welche assistierenden Technologien verfügbar sind und welche Tätigkeiten Menschen mit Sehbehinderung ausführen können. Wichtig sei auch, auf die Kompetenzen der Menschen mit Sehbehinderung zu fokussieren, anstatt sie auf ihre Einschränkung zu reduzieren. Diese und weitere Tipps werden nun auf der bereits bestehenden Integrationsplattform für Arbeitgebende www.compasso.ch zugänglich gemacht. Personen mit Sehbehinderung selbst wird geraten, offen zu kommunizieren. Wie gehe ich eine Aufgabe an? Welche Hilfsmittel benötige ich dafür? Auf Sehbehinderung spezialisierte Stellen ihrerseits sind aufgefordert, die Wichtigkeit offener Kommunikation zu betonen und mit den betroffenen Personen Kommunikationsstrategien zu entwerfen. Der SZB bietet dazu einen Kurs für Fachleute an. Für alle Personengruppen ist zentral, berufsbezogene Weiterbildungen zu ermöglichen, einzufordern respektive zu empfehlen.

Auf gutem Weg

Die Studie hat gezeigt: Es wurde bereits sehr viel erreicht, seit 1953 in der Schweiz ein erster Telefonistenkurs für Menschen mit Sehbehinderung angeboten wurde. Und durch eine gute Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebenden, Teammitgliedern, Fachstellen und Betroffenen ist noch weit mehr möglich. Berufsverläufe, die an der Kommunikation scheitern wie der von Teresa S., können und müssen vermieden werden. Dazu wollen die Studie der ZHAW sowie die Publikation und das Info-Set des SZB beitragen.

Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen SZB

Der SZB setzt sich seit 1903 dafür ein, dass taubblinde, blinde und sehbehinderte Menschen ihr Leben selbst bestimmen und in eigener Verantwortung gestalten können. Er berät Betroffene, bietet ihnen Schulungen an, vertreibt Hilfsmittel und stellt Fachliteratur bereit. Zudem leistet er Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit sowie in Institutionen und treibt die Forschung voran.

An der Studie Beteiligte

Die Studie wurde von vier Departementen der ZHAW (Soziale Arbeit, Gesundheit, School of Management and Law, School of Engineering) in Zusammenarbeit mit der HES-SO realisiert. Dabei wurden sie eng begleitet vom SZB und einer Begleitgruppe, in der die zentralen Verbände des Sehbehindertenwesens sowie Vertreterinnen und Vertreter von Beratungsstellen und der Invalidenversicherung mitwirkten. Finanziert wurde SAMS vom Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, dem Migros Kulturprozent sowie dem SZB und seinen Mitgliedsorganisationen.