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Fall

Sozipedia – Kolumne über Fachbegriffe auf Abwegen

von Martin Biebricher 

Als «Fall» bezeichnen wir in der Sozialen Arbeit in der Regel das, womit wir es alltäglich zu tun haben: komplexen Lebensrealitäten von Einzelpersonen, Familien, Gruppen und Communitys sowie in Quartieren und Sozialräumen. Oft gehen Fallbeschreibungen auch mit (vermeintlich) expertisegestützten, fachsprachlichen Kategorien einher – wir denken beispielsweise an Fälle von Schulverweigerung, von Kindeswohlgefährdung, von Wohnungslosigkeit. Unmittelbar damit verbunden wiederum sind Zuschreibungen der Zuständigkeiten – Fall für die Schulsozialarbeit, für die Heimerziehung, für die Gassenarbeit.

Was aber beschreibt der Begriff «Fall» eigentlich? In Fachwörterbüchern der Sozialen Arbeit finden sich Einträge zu «Fallarbeit» oder «Fallzahl», der Begriff «Fall» als solches wird jedoch meistens nicht näher behandelt. Ist der Fallbegriff also (fach)sprachliches Allgemeingut und ein Hinterfragen deshalb unnötig? Grund genug, der Sache einmal nachzugehen: Etymologisch geht «Fall» auf das althochdeutsche fal zurück, was einen Sturz, eine Kränkung, ein Ärgernis beschrieb.

Über das Sprachbild der gefallenen Würfel wurde daraus «Fall» als Begriff für eine formale (Rechts-)Angelegenheit. Der Fall als Sturz, Kränkung, Ärgernis: Nicht erst der Gedanke an die lange Zeit verbreite Metapher des «gefallenen Mädchens» für eine unverheiratete, ungewollt schwangere Frau lässt bei «Fall» also stets auch eine Konnotation des selbstverschuldeten Unglücks mitschwingen. Versteht sich Soziale Arbeit als diskriminierungssensible Profession, so ist dies nicht unproblematisch.

Wie aber können wir in der Sozialen Arbeit angemessen mit dem Fallbegriff umgehen? Der 2013 verstorbene Sozialpädagoge Burkhard Müller betonte dazu: «‹Fälle› sind Ereignisse oder Personen, die von dafür zuständig gehaltenen Personen […] zu Fällen gemacht werden.» Die Zuschreibungen «Fall von» und «Fall für» ergänzt Müller deshalb mit einer dritten, korrigierenden Perspektive:

Er regt an, Fälle immer auch als «Fall mit» zu verstehen. «Fall mit» richtet den Blick eben nicht auf kategoriale Problemattribute und institutionelle Zuständigkeiten, sondern auf die Adressat:innen Sozialer Arbeit selbst, auf ihre Lebensrealitäten und ihre Biografien. Erst durch diesen Perspektivwechsel wird Fallarbeit zu einem professionellen Einlassen auf und zu einer verstehenden Auseinandersetzung mit Menschen in Schwierigkeiten – mit dem Ziel, neue, gemeinsam getragene Handlungsoptionen zu eröffnen.

«Sozipedia» - neu auch als Podcast

Ist uns bewusst, was wir sagen, wenn wir das Wort Klientel verwenden? Oder Partizipation? Oder Diskriminierung? Oftmals nicht, findet ZHAW-Dozent und -Forscher Martin Biebricher. Der Leiter des Bachelorstudiengangs geht in der Kolumne «Sozipedia» Fachwörtern, die oftmals unbedacht verwendet werden, auf den Grund. Die Kolumne erscheint im Magazin «sozial» und neu auch als Podcast – hören Sie rein.

Podcast «sozial»