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Im Brennpunkt: Pflegefinanzierung

Pflege von morgen. Wo endet die Hilfe im Haushalt, wo beginnt die Pflege? Und wer trägt die Kosten für den stetig steigenden Betreuungs- und Pflegebedarf? Dringliche Fragen, die auf Antworten warten.

Eine Tochter steht hinter ihrer sitzenden Mutter.

Von Rahel Strohmeier Navarro Smith, Uwe Koch, Barbara Baumeister und Trudi Beck

Seit mehreren Jahren begleitet Brigitte K. ihre 89-jährige Mutter mit zunehmendem Betreuungs- und Pflegeaufwand: «Es hat sich so ergeben, eines um das andere, um das andere, um das andere.» Brigitte K.s Mutter ist heute gehörlos, demenzerkrankt und inkontinent. Auch ihre Sehfähigkeit lässt zunehmend nach, so dass sie in allen Bereichen der täglichen Aktivitäten auf Unterstützung angewiesen ist. Die Betreuung ist sehr komplex, nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten. Bis vor kurzem kam die Spitex jeweils einmal am Tag für zwei Stunden, was über die Krankenversicherung verrechnet werden konnte. Brigitte K. versuchte dann jeweils bei ihrer Mutter zu sein, damit sie im Notfall einspringen und unterstützen konnte. Ansonsten nutzte sie diese Zeit, um den Haushalt der Mutter zu besorgen. «Was mir helfen würde, wäre eine gute Spitex-Person, die von meiner Mutter akzeptiert wird. Jemand, der am Mittag kommt und vielleicht einmal zwischendurch auch an einem Abend», gesteht sie. Verhindert würde dies durch die Krankenversicherung, die ihr mitgeteilt habe, dass die Spitex-Leistungen auf eine Stunde am Tag reduziert würden, da die übrigen Tätigkeiten keine Pflegeleistungen seien. «Rollläden nach oben ziehen sei Haushalt, das Licht anmachen sei ebenfalls Haushalt, genauso wie das Bett machen», führt Brigitte K. aus. Sie wendet sich mit der Bitte um Unterstützung an die Pro Senectute, die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter, das Schweizerische Rote Kreuz und besorgt sich schliesslich einen Anwalt. Es ist ein langwieriger Prozess, der sie an den Rand ihrer Kräfte bringt. In dieser Zeit verstirbt ihre Mutter.

Pflege vs. Hilfe im Haushalt und Betreuung

Das Beispiel zeigt, wie schwer und für den Laien abstrakt die Unterscheidung zwischen von der Krankenversicherung anerkannten Pflegeleistungen und Hilfe im Haushalt ist. Insbesondere im fortgeschrittenen, sogenannten vierten Alter verstärkt sich diese Problematik, wenn eine Person neben der medizinischen Pflege auf weitere Hilfe und Unterstützung angewiesen ist, um ihren Alltag so lange wie gewünscht in den eigenen vier Wänden bestreiten zu können. Von den 80- bis 84-Jährigen sind heute rund 13 Prozent pflegebedürftig, von den über 85-Jährigen sind es bereits gut 34 Prozent. Da in aller Regel mit der Pflegebedürftigkeit eine Hilfsbedürftigkeit einhergeht und eine Hilfsbedürftigkeit einer Pflegebedürftigkeit vorausgeht, dürfte der Gesamtbedarf an Unterstützung von fragilen Menschen im Alter noch deutlich höher ausfallen, als es diese Zahlen ausweisen.
Im Gegensatz zur medizinischen Pflege ist der Begriff «Betreuung» in der schweizerischen Gesetzgebung nicht geregelt. Betreuung scheint sich vor allem dadurch auszuzeichnen, dass sie all das umfasst, was medizinische Pflege nicht ist. Dies entspricht jedoch einer einseitigen Unterscheidungslogik, die in erster Linie auf die unterschiedlichen Finanzierungsmodi zurückzuführen ist: Während die Grundversicherung der obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz für die Finanzierung von ärztlich erbrachten oder angeordneten Leistungen aufkommen muss (exklusive Franchise und Selbstbehalt), sind die nichtmedizinischen Leistungen in aller Regel von den Leistungsbeziehenden selber zu finanzieren. Nur bei bedürftigen Rentnerinnen und Rentnern werden medizinisch indizierte Betreuungskosten von der öffentlichen Hand übernommen, dies im Rahmen der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV oder zu kantonalen Bedarfsleistungen, wobei die konkrete Handhabung kantonal geregelt ist.

Aktuelle Entwicklungen und dringliche Fragen

Ein Hilfs- und Pflegebedarf beginnt in der Regel an der Schwelle vom sogenannten dritten zum vierten Alter. Obschon sich der Hilfs- und Pflegebedarf nicht linear zur steigenden Lebenserwartung entwickelt, ist von einem anhaltenden Trend hin zu mehr Hilfs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen auszugehen. Aufgrund der Individualisierung nimmt die Zahl der Einzelhaushalte zu. Fragen der Vereinzelung und der sozialen Isolation im Alter akzentuieren sich insbesondere dann, wenn das soziale Netz zunehmend brüchig wird und Handlungsfähigkeit und Mobilität aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt werden. Aufgrund der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen stellt sich die Frage, wer künftig – an Stelle oder in Ergänzung zu den Partnerinnen und Töchtern – in die Bresche springt bezüglich der informellen, nichtmedizinischen Care-Arbeit bei älteren Angehörigen. Global gesehen werden wir zudem gefordert sein, Hilfs- und Pflegearrangements im Rahmen der sogenannten Care-Migration sozialgerechter und sozialverträglicher zu gestalten. Verbesserte Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige und Care-Migrantinnen sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Was geschieht beispielsweise mit älteren Menschen, die über kein familiäres Netz verfügen und sich keine Betreuung zu Hause leisten können? Welche Voraussetzungen sind nötig, damit vermehrt auch Männer in die informelle Hilfe und Betreuung einbezogen werden können? Hier bräuchte es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung und Verständigung darüber, welche Modelle der Hilfe, Betreuung und Pflege im Alter wir wollen, wer die Leistungen vorwiegend oder in welchem Umfang unter welchen Rahmenbedingungen zu erbringen hat – Fachkräfte oder Familie – und wie die Leistungen zu finanzieren sind: kollektiv-solidarisch oder privat-individuell.

Wer soll das bezahlen?

Gemäss Hochrechnungen des Bundesrates werden sich die Ausgaben für die Langzeitpflege von rund 6 Milliarden Franken im Jahr 2011 bis 2045 auf rund 18 Milliarden Franken verdreifachen. Die Hauptbetroffenen dieses Anstiegs werden die Kantone, die Gemeinden und die privaten Haushalte sein. In seinem jüngsten Bericht zur Langzeitpflege skizziert der Bundesrat verschiedene Varianten, wie die zu erwartenden Mehrkosten zu finanzieren sind – wobei hier indirekt auch die Systemfrage gestellt wird: nämlich die Frage, wie künftig im Alter umsorgt und gepflegt werden soll und nach welchen Kriterien diese Leistungen abgegolten werden. Die Vorschläge reichen von einer Pflegeversicherung zur Abdeckung der Betreuungskosten über eine Versicherung, bei der nur die Pflegeleistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abgedeckt werden, bis zu einer umfassenden Versicherungslösung.
Sozialpolitisch relevant ist dabei nicht nur, welche Hilfs-, Betreuungs- und Pflegearten konkret durch eine allfällige neue Versicherung abgedeckt würden. Es muss auch geklärt werden, ob es sich um eine privatrechtliche Lösung – wie etwa die Ausweitung der Säule 3a zur Deckung der Pflegekosten – oder um ein öffentlich-rechtliches Modell handelt – wie etwa die Ausweitung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung respektive die Schaffung einer eigentlichen Pflegeversicherung –, und wie viele öffentliche Beiträge oder Mittel vorgesehen sind. Schlussendlich geht es bei der Wahl der Finanzierung nicht nur darum, wer die Kosten trägt, sondern auch darum, welche horizontale oder vertikale Umverteilung daraus resultiert. Wird das Erbe mit einer Pflegeversicherung geschützt oder werden die Kantone und Gemeinden zulasten der Prämienzahlenden geschont, so führt dies zu einer Umverteilung zuungunsten der weniger wohlhabenden Bevölkerung. Lässt man das System der Finanzierung der Krankenkassenprämien über Kopfprämien unverändert, so führen der demografische Wandel und das Kostenwachstum im Gesundheitswesen zu einer zunehmenden Lastenverschiebung zum Nachteil der jüngeren Bevölkerung. Zusätzlich verschärft wird diese Entwicklung durch sinkende individuelle Prämienverbilligungen der Kantone. Unabhängig davon bleibt zu überlegen, warum nicht für einmal das Rad der Geschichte zurückgedreht werden soll und Pflege unabhängig davon, ob sie im Spital, in einem Alters- und Pflegeheim oder durch die Spitex erbracht wird, von der Krankenversicherung abzudecken ist. Weiter wäre die in der Praxis ohnehin als problematisch erachtete Unterscheidung von Betreuung und Pflege aufzuheben respektive eine für das Alter eigenständige, neue und umfassende Definition der Hilfslosigkeit im Alter inklusive Pflegebedürftigkeit zu schaffen, die an die Umschreibung der Grundpflege in Artikel 7 der Krankenpflege-Leistungsverordnung anschliesst. Die Soziale Arbeit wird sich in Zukunft zudem mit zwei weiteren Fragen beschäftigen: Ist ein ausreichendes und qualitativ hochstehendes Hilfs-, Betreuungs- und Pflegeangebot auch für vulnerable Menschen im Alter zugänglich und erschwinglich? Und welche Massnahmen sind allenfalls notwendig für die Sicherstellung und Optimierung eines bedarfsgerechten und lückenlosen Betreuungsangebots?

Forschung und Weiterbildung

Die ZHAW Soziale Arbeit beschäftigt sich in Forschung und Weiterbildung verschiedentlich mit Betreuung und Pflegeaspekten und arbeitet eng mit Praxispartnern zusammen. So beispielsweise im Rahmen des Forschungsprojekts «Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen» und in den Weiterbildungen in Sozialer Gerontologie und Gerontagogik.