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Auslandadoptionen: Ungeklärte Herkunft

Viele Schweizer Paare adoptierten ab den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre Kinder aus dem Ausland. Eine Analyse der Akten zeigt, dass die Behörden von teilweise illegalen Praktiken wussten.

Foto: Carmela Harshani Odoni

Von Nadja Ramsauer, Rahel Bühler und Katja Girschik 

In den Medien wurde es als «Skandal» bezeichnet: Vor vier Jahren ergab eine Untersuchung der ZHAW, dass Schweizer Behörden nicht genau hin- oder sogar weggeschaut hatten, als ihnen bei Adoptionen von Babys aus Sri Lanka mangelhafte oder gefälschte Dokumente vorgelegt wurden. Nach Bekanntwerdung dieser eklatanten Missstände bat die Schweizer Regierung im Dezember 2020 die betroffenen Personen um Entschuldigung.  

Anschliessend beauftragte der Bundesrat die ZHAW mit einer Bestandesaufnahme zu den Unterlagen im Schweizerischen Bundesarchiv, da seit den 1980er-Jahren nicht nur Kinder aus asiatischen Ländern, sondern vermehrt auch aus Südamerika und Osteuropa in die Schweiz vermittelt wurden. Diesmal sollten exemplarisch Akten zu Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, Libanon, Peru und Rumänien gesichtet werden.  

Die Analyse ergab, dass die schweizerischen Behörden und Vertretungen in den Herkunftsländern der Kinder über Hinweise auf illegale Adoptionspraktiken verfügten. Wenn in einem Land Kinderhandel bekannt wurde, mahnte etwa das damalige Bundesamt für Ausländerfragen zu Vorsicht und pochte auf die Einhaltung der Gesetze und Richtlinien, deren Umsetzung bei den Kantonen lag. Die Behörden sahen sich ihrem Kompetenzbereich entsprechend nur für einen Teil der Abläufe zuständig. 

Handel mit «Pseudo-Waisen»

Ausschlaggebend für diese Haltung waren die komplexen Verfahren mit vielen Involvierten, die kaum zu kontrollieren waren. Zudem herrschte ein gesellschaftlich abgestützter Konsens sowohl bei Behörden, Vermittler:innen wie auch Adoptiveltern, dass es die adoptierten Kinder in der Schweiz besser hätten als im Herkunftsland. Und nicht zuletzt reagierten die Behörden pragmatisch auf die stets hohe Nachfrage der adoptionswilligen Paare, indem sie ihren Wunsch noch höher gewichteten als die Interessen der Adoptivkinder und ihrer Eltern.  

Von Gesetzes wegen musste ein Kind verwaist oder verlassen sein, um in der Schweiz adoptiert werden zu können. Lag bei der Einreise in die Schweiz keine ausreichende Dokumentation zur bisherigen Lebensgeschichte des Kindes vor, gingen die Behörden beim Bund und in den Kantonen in der Regel davon aus, dass das Kind verlassen war. Diese Annahme führte dazu, dass die Herkunft der Kinder in solchen Fällen nicht gründlich abgeklärt wurde.  

Manchmal hatten die schweizerischen Botschaften und Konsulate in den Herkunftsländern der Kinder sogar Kenntnis davon, dass vermeintliche Waisenkinder noch immer Eltern hatten. In Korea etwa sprach der schweizerische Geschäftsträger von Handel mit «Pseudo-Waisen».  

Das Bundesamt für Ausländerfragen und das Bundesamt für Justiz machten untereinander wiederholt zum Thema, dass viele adoptionsinteressierte Paare ohne die Hilfe offizieller Vermittlungsstellen auf eigene Verantwortung im Ausland ein Kind suchten. Solche Paare umgingen manchmal die Einreiseformalitäten und brachten die Kinder ohne Bewilligung der Fremdenpolizei oder ohne gültigen Pass in die Schweiz. Adoptionswillige, die sich selbst im Ausland um ein Kind bemühten, kamen unter Umständen, so die Vermutung der Bundesbehörden, auch in Kontakt mit Kinderhandel.  

Vorgetäuschte Geburt, gefälschte Einträge

Die schweizerischen Behörden waren wiederholt mit fehlerhaften, lückenhaften oder gefälschten Dokumenten konfrontiert, wenn zum Beispiel künftige Adoptiveltern im Geburtsschein der Kinder als leibliche Eltern eingetragen wurden, was etwa in Brasilien verbreitet war. Teilweise fehlten wichtige Informationen wie das Geburtsdatum des Kindes, Angaben zur leiblichen Mutter oder die elterliche Zustimmungserklärung.  

Für Chile und Brasilien gibt es Korrespondenzen im Bundesarchiv zu Fällen, in denen eine Geburt vorgetäuscht wurde, ein fremdes Kind als leibliches ausgegeben wurde und Einträge ins Zivilstandsregister gefälscht oder erkauft wurden. Die Behörden beim Bund und in den Kantonen hatten teilweise auch mit Schweizer Vermittler:innen zu tun, die unter ungeklärten Umständen Kinder in die Schweiz brachten. 

Waren die schweizerischen Vertretungen in ihrem Residenzland mit Kinderhandel konfrontiert, reagierten sie oft zurückhaltend. Sie hoben hervor, dass sie die Instruktionen seitens des Bundesamts für Ausländerfragen und des Bundesamts für Justiz einhalten würden und im Ausland nicht viel bewirken könnten. Manchmal gaben sie den Fall zurück an die Bundesbehörden oder forderten bei ihnen Anweisungen ein.  

Distanz schaffende Aktensprache

Zur zurückhaltenden Reaktion auf Kinderhandel gehörte auch eine Distanz schaffende Aktensprache. In Kolumbien wurde der Verkauf von Kindern in einem Schreiben an die Bundesbehörden verharmlosend als «selbst für kolumbianische Verhältnisse staunenerregend» bezeichnet, in Peru sprach das Botschaftspersonal von «Schwierigkeiten», als es um Kinderhandel ging.  

Oft wurde der Wortersatz für Kinderhandel in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt: Im Fall von Kolumbien sprach ein Mitarbeiter des Bundesamts für Justiz in einem Schreiben an die schweizerische Botschaft in Bogotá von «Adoptionen und ‹Adoptionen›», in einer Aktennotiz der schweizerischen Botschaft in Peru wurde die «illegale ‹Kinderausfuhr›» erwähnt. Nur selten recherchierten die Botschaften von sich aus zum Thema Kinderhandel und schickten entsprechende Berichte an die zuständigen Bundesbehörden, wie dies beispielsweise in Indien oder Korea geschah.  

Medien decken Missstände auf

Meistens standen Presseberichte über Fälle von Kinderhandel am Anfang einer behördlichen Reaktion. Das Bundesamt für Ausländerfragen und das Bundesamt für Justiz baten die Vertretungen im Ausland, abzuklären, ob die Schweiz involviert war, so etwa in Kolumbien, als 1981 in der Hauptstadt Bogotá ein Kinderhandelsring aufgedeckt wurde.  

Die Medienberichte zum Kinderhandel rissen in Brasilien, Guatemala oder Peru über einen langen Zeitraum hinweg nie ab. Das Wissen über unseriöse Vermittler:innen und Anwält:innen entstammte meistens diesen Medienberichten, selbst Beweise vor Ort zu sammeln, sei aber für die schweizerischen Vertretungen schwierig gewesen, gaben sie in den Akten an.  

Auch zum Beispiel über ein Kinderheim im Libanon, das keine Unterlagen zur Herkunft der Kinder aufbewahrte, fand die Botschaft wenig heraus, als sie im Jahr 2000 mit Anfragen von Adoptierten konfrontiert war, die ihre Herkunft ergründen wollten. Sie beschränkte sich allerdings darauf, nur die katholischen Schwestern zu befragen, die das Heim führten.  

Gesamtbild fehlt

Schliesslich gab es strukturelle Faktoren, die illegale Adoptionspraktiken begünstigten, etwa Sprachbarrieren. So beherrschte die Belegschaft der Schweizer Botschaften in Indien oder Korea die Landessprache nicht, sondern kommunizierte mit lokalen Behörden auf Englisch. Erschwert wurde die Situation, wenn – wie in Indien – föderale Strukturen mit lokal unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen vorherrschten oder als der politische Umsturz von 1989 in Rumänien beispielsweise vorübergehend einen rechtsunsicheren Zustand herbeiführte. Kinderhandel war auch nach dem Ceaușescu-Regime in den 1990er-Jahren verbreitet, ebenso in Chile nach dem Sturz von Diktator Pinochet 1989.  

Ein Gesamtbild zur Geschichte der Auslandsadoptionen in der Schweiz fehlt. Durch die Sichtung der ZHAW von Dokumenten aus zehn Ländern zeichnet sich ab, dass es vielerorts illegale Praktiken gab und sich die schweizerischen Behörden mit zahlreichen Vollzugsproblemen bei den Auslandsadoptionen befassen mussten. Studien zu den Kantonen und den Vermittler:innen fehlen weitgehend. Sie könnten wesentlich dazu beitragen, dieses Kapitel in der Geschichte der Schweiz aufzuarbeiten. 

Politischer Prozess kommt in Gang

Zudem braucht es mehr Wissen zu den Motiven der Adoptiveltern, da ihre grosse Nachfrage nach Kindern aus dem Ausland das Geschehen stark beeinflusste. Im Zentrum von künftigen Studien sollten auch die adoptierten Kinder stehen, wie Interessenvertretungen wie Back to the Roots betonen. Wie hat die Adoption ihr Aufwachsen in der Schweiz beeinflusst? Welche Auswirkungen hat ihre Herkunftssuche, die durch falsche oder lückenhafte Dokumente erschwert ist, auf sie?  

Dies alles sollte untersucht werden. Der politische Prozess in der Schweiz, der eine angemessene Anerkennung ihres erfahrenen Leids zum Ziel hat, kommt gerade erst in Gang. Eine umfassende historische Aufarbeitung der Inlands- und Auslandsadoptionen in der Schweiz im 20. und 21. Jahrhundert bildet dafür die Grundlage.

Forschungsprojekt und Fotoprojekt 

Die ZHAW-Mitarbeiterinnen Nadja Ramsauer, Rahel Bühle und Katja Girschik untersuchten im Auftrag des Bundesamts für Justiz Unterlagen im Schweizerischen Bundesarchiv, die Hinweise auf illegale Adoptionen von Kindern aus zehn Herkunftsländern in die Schweiz von den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre geben. 

Zum Forschungsbericht 

Carmela Harshani Odoni wurde 1980 in Colombo geboren und als Baby von einem Luzerner Ehepaar auf offiziellem Weg adoptiert. Im Jahr 2004 reiste die Fotografin nach Sri Lanka, um ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen. Die Bilder zu diesem Artikel stammen von Odonis Suche. 

Website Carmela Odoni