Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

Subjektfinanzierung – Lebensgestaltung ohne vorgefertigte Schubladen

Wie muss eine Subjektfinanzierung gebaut sein, damit Menschen mit Behinderung sich darin bewegen und tatsächlich grosse Lebensentscheide treffen können?

von Angela Wyder und Christian Liesen

Subjektfinanzierung ist ohne Zweifel sehr attraktiv: Menschen mit Behinderung verfügen selbst über die Gelder, die ihrem individuellen Unterstützungsbedarf entsprechen. Dadurch können sie grosse Lebensentscheide fällen. Wo will ich leben? Wer soll mich unterstützen? Das Ergebnis ist ihre persönliche Lebensgestaltung – bedürfnisgerecht, ohne dass sie sich in vorgefertigte Schubladen einordnen müssen.

Doch wie muss eine Subjektfinanzierung gebaut sein, damit Menschen mit Behinderung sich darin bewegen und tatsächlich grosse Lebensentscheide treffen können? Diese Frage stellt sich umso schärfer, je abhängiger jemand von Unterstützung ist und je stärker jemand in seiner Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist. Passt man hier nicht auf, ist am Ende ausser der guten Absicht nicht viel gewonnen.

Das traditionelle Versorgungssystem bietet Sicherheit

Traditionell verteilen Kantone ihre Gelder an Leistungsanbieter, üblicherweise an stationäre Einrichtungen. Das ist die sogenannte Objektfinanzierung. Die Kantone vereinbaren mit den Anbietern die Anzahl Plätze und in welcher Qualität zu welchen Kosten die Unterstützungsleistungen zu erbringen sind. Sie stellen für Menschen mit Behinderung also ein Versorgungssystem bereit, das sie planen, ressourcieren und beaufsichtigen. Dieses traditionelle System bietet allen Beteiligten viel Sicherheit: Planungssicherheit, finanzielle Sicherheit, Angebotssicherheit.

Warum das System umstellen – worin liegt der Zweck?

Wie kommt ein Kanton also auf die Idee, von der Objekt- auf eine Subjektfinanzierung umzustellen? Und wie kann er das tun? Klar: Er möchte mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Allerorten spornt die UNO-Behindertenrechtskonvention an, die bisherige Praxis zu überdenken. Ein System aus vordefinierten Angeboten kann man zwar gut bedienen, aber es schränkt die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten ein.

Konzeptionell muss nun klar werden, was der Franken denn anderes tun soll, als er bisher getan hat. Die Erfahrung zeigt: Die Oberhand gewinnt schnell die Frage, wie das Budget neu zu verteilen ist. Wer erhält künftig über welchen Prozess in welchem Umfang finanzielle Mittel? Am Ende fliessen die Gelder anders als zuvor – aber was hat man erreicht?

Nötig ist also ein gutes Grundverständnis der Subjektfinanzierung. Wofür ist sie da? Wofür nicht? Und das kann man verschieden sehen. Wir befassen uns seit einigen Jahren mit dem Thema. Unsere Herangehensweise ist wie folgt.

Nicht versorgt werden, sondern handeln und gestalten

Die Subjektfinanzierung stellt Menschen mit Behinderung mit ihren Potenzialen und Ideen ins Zentrum. Sie sollen nicht als blosse Empfänger von Unterstützung betrachtet werden – es geht nicht darum, sie zu versorgen oder ihre Beeinträchtigung zu kompensieren. Im Gegenteil: Sie sollen als Handelnde gesehen und anerkannt werden und über ihre Lebensgestaltung entscheiden können.

Das hat weit reichende Folgen. Es ist, im Kleinen wie im Grossen, die einzig taugliche Haltung für die Arbeit von, mit und für Menschen mit Behinderung. Mit der Subjektfinanzierung hält diese Haltung ins System selbst Einzug – als Prinzip, nach dem die notwendigen Unterstützungsleistungen konstruiert sein sollen. Doch um welche Entscheide geht es? Was soll Menschen mit Behinderung möglich sein? Was heisst entscheiden?

Es geht um die grossen Entscheide

Die Subjektfinanzierung zielt auf die grossen Entscheide im Leben: Überhaupt die Wahl zu haben, wo man mit welcher Unterstützung leben will. Nicht in eine stationäre Einrichtung zu müssen, um einen Anspruch auf Unterstützungsleistungen zu haben. Eine Unterstützung zu erhalten, die den persönlichen Lebensvorstellungen entspricht.

Bedarfe decken, nicht Wünsche erfüllen

Das ist nicht mit Wunscherfüllung zu verwechseln. Es werden nämlich nicht Wünsche wahr, sondern Bedarfe gedeckt: Es kann immer nur um das gehen, was für alle aus guten Gründen anzuerkennen ist und keinem Menschen vorenthalten werden kann. Ziel eines jeden Kantons ist es, dass jeder Mensch mit Behinderung die angemessene Unterstützung erhält. Und mit der Subjektfinanzierung hat er eine innovative Leitidee auf dem Tisch, das zu erreichen.

Die praktische Prüfgrösse: Entscheiden heisst, die Person kann sich zu den Geldern verhalten

Menschen mit Behinderung entscheiden, wie sie ihre Mittel einsetzen. Das ist der unverrückbare Ausgangspunkt der Subjektfinanzierung. Es kommt darauf an, was sie mit den Geldern tun und sein können, ob sie tatsächlich Entscheidungen treffen können. Wie die Gelder also fliessen, ist entgegen häufig gehörter anderer Ansichten zweitrangig – dass Menschen mit Behinderung den Überblick haben und dass für sie klar ist, welche Mittel sie haben und für welche Unterstützungsleistungen sie diese einsetzen können, ist erstrangig.

Natürlich sieht der Prozess des Selberentscheidens unterschiedlich aus. Es wird Menschen geben, die auf Begleitung und Support angewiesen sind. Gerade Menschen mit eingeschränkter Autonomie- und Handlungsfähigkeit sind der Prüfstein für die Umsetzung der Subjektfinanzierung. Ein Leben lang bin ich es gewohnt, dass andere Entscheidungen für mich treffen und umsetzen – jetzt muss ich zuerst lernen, die Rolle als Handelnder einzunehmen. Lernen, sich mit sich selber und den eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen, Erfahrungen mit Freiräumen sammeln und Selbstwirksamkeit erleben, dieser Prozess kann mehrere Monate oder Jahre dauern. Bei Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen kann es sein, dass diese schwierige Rolle stellvertretend übernommen werden muss. Aber genau dann, wenn gängige Denkweisen zur Disposition gestellt sind und eine aktive Auseinandersetzung geführt wird, fallen tatsächlich grosse Lebensentscheide.