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Wie es ist, wenn Ausgegrenzte andere ausgrenzen

Wer neu zu einer Gruppe stösst, muss sich beweisen. Diese Machtdynamik beschrieb einst der Soziologe Norbert Elias in England. Sie spielt auch in Mikrokosmen wie einem Alkoholiker-Treffpunkt in Zürich.

Schwarzes Schaf als Aussenseiter neben der Herde
Wer andere ausgrenzt, hofft darauf, seine eigene Machtposition stärken zu können. (Bild: iStock)

Von Erilene Leite de Araújo und Michael Herzig

Eine soziale Einrichtung als Heimat für Menschen, die kein Daheim haben. So wurde die Anlaufstelle t-alk vor über 20 Jahren in Zürich konzipiert. T-Bindestrich-Alk: Treffpunkt für Alkoholikerinnen und Alkoholiker. Laut Konzept sollten sie sich mit ihrem Treff identifizieren, er sollte attraktiver sein als die Parkbank. Mittel dazu waren Mitsprache und Mitarbeit. Sehen konnte man dies an den Brockenhaus-Schinken an der Wand, hören an Elvis Presley aus der Stereoanlage und erfahren bei den Jass-Meisterschaften.  

Einen Tag im Monat schmissen die Klientinnen und Klienten den Laden selbst. Ohne moderierende und beschwichtigende Sozialarbeit. Da die Zielgruppe schwere Alkoholikerinnen und Alkoholiker waren (und noch immer sind), ähnelte die Einrichtung bald einer Kneipe. Der prominenteste Ort? Der Stammtisch. Gross, rund, in seiner Mitte ein kupferner Aschenbecher. 

Symbol für Machtausübung

Wer Beizen kennt, weiss: Ein Stammtisch ist Einheimischen vorbehalten. Wer das Lokal zum ersten Mal betritt, setzt sich woanders hin. Vorerst. Haben sich die Zugezogenen bewährt, dürfen sie sich dazusetzen. Dann gehören sie dazu. So war es beim t-alk gedacht: Der Stammtisch als Instrument sozialer Inklusion. Das war er auch – aber nicht nur das. Er stellte sich als geradezu dialektisches Möbel heraus. 

Eine Studentin der Sozialen Arbeit sah in ihm ein Symbol für Machtausübung. Die junge Frau war in Brasilien aufgewachsen und absolvierte im t-alk ihr Praktikum. Der grosse runde Tisch, dieser Platz in der Mitte des Raumes, erinnerte sie an eine Theorie des jüdischen Intellektuellen Norbert Elias. 

Als die Nationalsozialisten 1933 das soziologische Institut der Universität Mannheim schlossen, an dem er habilitieren wollte, floh Elias nach England. Nach Monaten in Internierungslagern liess er sich in Leicester nieder. Im Vorort South Wigston beobachtete er ein ausgeprägtes Machtgefälle zwischen der ansässigen Industriearbeiterschaft und den später zugezogenen Arbeiterfamilien. Arm waren alle, nur die neu Zugezogenen waren ärmer dran.

Wer gut kocht, gewinnt viel Ansehen

In dieser Arbeitersiedlung sezierte Norbert Elias die sozialen Beziehungen. Er entlarvte faktische Diskriminierung von neu Zugezogenen und symbolische Machtkonstituierung der seit langem Ansässigen. Seine eigene Erfahrung als Geflüchteter, sein eigenes Fremdsein schärften die Sinne. So deckte er Ausgrenzungsmechanismen auf, die er im Buch «Etablierte Aussenseiter» beschrieb. Darin gibt er South Wigston den fiktiven Namen Winston Parva. Das 1965 publizierte Werk ist heute ein Klassiker der Soziologie.

Wer sich im t-alk an den Stammtisch setzen darf, ist das eine, was auf den Tisch kommt, das andere. Im Treffpunkt kochen die Gäste. Besonders oft tun dies die Stammgäste. Wer es schafft, 30 vollwertige Menüs zuzubereiten, erntet Anerkennung. Das ist gut für das Selbstbewusstsein von Menschen, denen draussen auf der Parkbank ständig das eigene Scheitern vorgeführt wird.  

Nur beinahe im gleichen Boot

Kochen als Inklusionsbeschleuniger – das gehörte zum Konzept. Und es hat funktioniert: Die Köchinnen und Köche sind hoch angesehen. Sogar ein Kochbuch haben sie herausgegeben, darin Fotos mit strahlenden Augen in verwitterten Gesichtern.  

Aber im t-alk gibt es auch Neuankommende, denen wird nicht warm ums Herz, wenn der Cervelat-Salat serviert wird oder das Wädli mit Sauerkraut und Kartoffeln. Manche schieben das Schweinefleisch zur Seite. Andere versuchen, selbst in die Position der Köchin oder des Kochs zu gelangen. 

Doch da hört der Spass auf. «Versuchen kann man es schon, aber wenn man keine Erfahrung hat, dann filtern sie dich raus», sagt Zara, die es probiert hat. Die Stammgäste kennen keine Gnade, wenn es nicht mundet. Oder wenn es zu fremdländisch schmeckt. «Wenn sie ihr Essen ‹innebigä› wollen, sollen sie es im Coop selber kaufen. Ich kann ja auch nicht weiss ich irgendwo hin nach Marokko und sagen: ‹Ich will Rösti!›», meint Reto. «Kein Schweinefleisch essen, aber saufen und kiffen», fügt er noch an.  

Schweinefleisch – ein schwieriges Thema

Er ist ein Wortführer am Stammtisch. Zwar sässen sie alle im gleichen Boot: keine Wohnung, Alkoholabhängigkeit, psychische Probleme. Doch weil sie eben nicht in der Schweiz aufgewachsen seien, passen die Neuen auch nicht hierhin. Reto sagt: «Wenn du anders aufwächst, kannst du nicht einfach den Schalter umstellen.» Jürg mag diese Diskussion nicht. Man ende schnell beim Rassismus. 

Die Mehrheit der Köche im t-alk sind Schweizer, männlich, über 50. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter versuchen immer wieder, die Zusammensetzung der Kochtruppe ausgeglichener zu gestalten und damit den Menüplan der multikulturellen Realität anzupassen. «Aber das mit dem Schweinefleisch ist schwierig», meint Zara. Said ergänzt: Die Neuen bräuchten Zeit, um akzeptiert zu werden. Es sei normal, finden die beiden, dass die Alteingesessenen Privilegien haben. Said ist überzeugt, dass es Demut braucht, um dazuzugehören. Zara hat den Anpassungsdruck verinnerlicht: «Ich bin nicht Rassistin, aber ich denke, wenn man in ein Land kommt, muss man sich anpassen.»  

Nostalgie mischt sich mit Angst

Auch den Stammgästen ist klar, dass die Neuen irgendwann einmal nicht mehr neu sein werden. Ausserdem sterben Stammgäste weg, man wird selten alt auf der Gasse. Leere Sitze werden neu besetzt. Da macht sich gerne einmal präventive Nostalgie breit.   

Zur Sehnsucht nach dem Gestern gesellt sich die Furcht vor dem Morgen: «Sie kommen ‹chlapfweise›. Nicht nur einer oder zwei, sondern sie kommen halt oft in Gruppen. Sie setzen sich breit hin und beanspruchen viel Platz.» Darum werden die Neuankömmlinge der alten Zeiten wegen von Schlüsselpositionen ferngehalten, so lange es eben geht – und wie Norbert Elias es beschrieben hat. 

Sie werden auch mit allen möglichen Schimpfworten tituliert, trotz Verbot und drohender Sanktionen durch das Team. Das Repertoire ist dasselbe wie an jedem anderen Stammtisch. Und es geschieht so wirkungsvoll, dass einige der Abgewerteten irgendwann selbst von ihrer Minderwertigkeit überzeugt sind. Andere reagieren mit Gegenvorwürfen. Wieder andere orten neue Gruppen, die noch schlechter gestellt sind als sie selbst. 

Auf einmal haben sie etwas zu verlieren

Im t-alk sind die «Etablierten», wie der Soziologe Elias sie nannte, männliche Alkoholiker mit Schweizer Pass, die seit langem dorthin gehen. Früher sassen sie am Stauffacher, in der Bäckeranlage, am Stadelhoferplatz und am Hauptbahnhof. Der t-alk ermöglichte ihnen, vom Rand in die Mitte zu rücken. Mit dem t-alk haben sie eine neue Heimat.  

Und auf einmal haben sie etwas zu verlieren. Eine der Kernaussagen von Norbert Elias lautet, dass Macht nur im Verhältnis zu Ohnmacht existiert. Man ist nicht mächtig per se, sondern bloss mächtiger als jemand anderer. Ohne Mitte gibt es keinen Rand, ohne Etablierte keine Aussenseiter.  

Was mag Inklusion zu erreichen?

Die Rolle der Neuankömmlinge in Winston Parva übernehmen im t-alk in der Schweiz aufgewachsene Secondos, Arbeitsmigrierende aus Lateinamerika und Osteuropa, Geflüchtete aus dem Nahen Osten und aus Afrika. Sobald sie die Türschwelle überschreiten, geraten sie in einen Strudel aus Stigmatisierung und Gegenstigmatisierung. Wie die Neuankömmlinge bei Elias.  

Dies alles bedeutet jedoch nicht, dass der t-alk als Inklusionsprojekt gescheitert ist. Man muss sich vielmehr fragen, was Inklusion überhaupt zu erreichen vermag.  

Wenn man Ausgegrenzten die Möglichkeit gibt, sich so zu verhalten, wie die Mitte der Gesellschaft, dann verhalten sie sich eben auch so. Im Mikrokosmos des Randständigen-Treffs ist das informelle Schweinefleischgebot das, was das Minarett- und das Burkaverbot in der Bundesverfassung sind. 

Blick von aussen

Soziale Einrichtungen sind ein Spiegel der Gesellschaft, die sie geschaffen hat. In ihnen zeigt sich beispielhaft, wie schwierig es ist, gewisse Dinge wahrzunehmen oder zu verändern, wenn man selbst Teil des Ganzen ist. Es mag kein Zufall sein, dass einer Aussenstehenden wie der Praktikantin aufgefallen ist, was manche Eingesessenen übersehen haben mögen.  

Der Blick von aussen lüftet den Schleier über dem Alltäglichen und dem Unbeachteten. Er hilft uns, vermeintlich Selbstverständliches zu verstehen. Er zwingt uns, Gewissheiten zu hinterfragen. Er bewahrt uns davor, zu werden, was wir vielleicht nie werden wollten. 

Zürcher Alkoholikertreffpunkt und soziologische Theorie

Der t-alk ist ein Angebot der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich. Das Konzept wird regelmässig überarbeitet. Beispielsweise wurde der Stammtisch inzwischen ersetzt durch eine offenere Raumgestaltung. Zudem unterstützen sozialpädagogische Massnahmen die Integration aller Gäste. So ist Said nun Koch, dessen marokkanische Küche ist äusserst beliebt.

Erilene Leite de Araújo hat in ihrer Bachelorarbeit Sozialdynamiken im t-alk analysiert und dazu die Etablierte-Aussenseiter-Figuration von Norbert Elias angewendet. Der beurteilende Dozent der ZHAW Soziale Arbeit, Michael Herzig, hat den t-alk vor Jahren mitentwickelt und mitbegründet