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Schule nach amerikanischem Vorbild?

In den USA sind Tagesschulen im Gegensatz zur Schweiz schon lange etabliert. Wo sind zwischen den beiden Ländern Gemeinsamkeiten auszumachen. Und was kann die Schweiz von den amerikanischen Vorreitern lernen?

Porträt von Emanuela Chiapparini

Interview mit Emanuela Chiapparini

In der Schweiz hat die Bedeutung der Ganztagesbildung in den letzten 15 Jahren stetig zugenommen. In anderen Ländern sind Tagesschulen schon fester Bestandteil der Schullandschaft: so etwa die Children’s Aid Society Community Schools (CAS Community Schools), die sich Anfang der 90er Jahre in den sozialen Brennpunktquartieren von New York City entwickelt haben und die heute in den USA und international stark verbreitet sind.
Ein Forschungsprojekt von Emanuela Chiapparini, Dozentin und Projektleiterin am Institut für Kindheit, Jugend und Familie, widmet sich dem Thema. Im internationalen Forschungsprojekt werden Erfahrungen aus Community Schools in New York für die Entwicklung von Tagesschulen in der Schweiz nutzbar gemacht. Im Interview gewährt Emanuela Chiapparini Einblicke ins Projekt und in die gewonnen Erkenntnisse.

Inwiefern lassen sich die Community Schools mit Schweizer Tagesschulen vergleichen?
Schulvergleiche sind grundsätzlich mit gewissen Vorbehalten vorzunehmen, weil es die Community School oder die Schweizer Tagesschule nicht gibt. Allerdings sind gemeinsame Kernelemente in den CAS Community Schools und in den Tagesschulen im Rahmen des Pilotprojekts «Tagesschule 2025» der Stadt Zürich zu erkennen. Hierzu zählt ein integratives Verständnis von Schulbildung, das allen Schülerinnen und Schülern Lernmöglichkeiten inner- und ausserhalb des Unterrichts bietet, um ihre kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten zu fördern. Ein weiteres Kernelement beider Schulmodelle besteht im gemeinsam geführten Schulbetrieb durch die Schulleitung und die Leitung Soziale Arbeit / Betreuung, wobei die Schulleitung die letzte Verantwortung trägt.

Wo sehen Sie die grössten Unterschiede des Schulsystems im Vergleich zur Schweiz?
In den Vereinigten Staaten sind das Mittagessen und ausserunterrichtliche Angebote wie fachliche Förderkurse oder Freizeitaktivitäten seit mehreren Jahrzehnten in allen Schulmodellen integriert. Diese Angebote werden je nach Schulprofil von der Schule selbst oder durch Partnerorganisationen kostenpflichtig oder subventioniert angeboten. Weiter gelten in den Vereinigten Staaten private und von der Privatwirtschaft gesponserte Schulen als «bessere» Schulen, die eine sichere Grundlage für das Erreichen von höheren Bildungsabschlüssen gewähren. Für öffentliche Schulen gilt dies hingegen nicht. Vor diesem Hintergrund sind in sozialen Brennpunktquartieren Community Schools entstanden, um sozial benachteiligten oder leistungsschwachen Heranwachsenden eine ganzheitliche Bildung und vielfältige Lerngelegenheiten in öffentlichen Schulen zu ermöglichen.

Was macht das Konzept der CAS Community Schools aus?
Die CAS Community Schools ermöglichen ergänzend zur bereits erwähnten integrativen Schulbildung kostenlose oder stark subventionierte attraktive Lernangebote für Heranwachsende und deren Familien, die innerhalb der Schule stattfinden. Zum Beispiel haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, an Internet- oder Sozialprojekten teilzunehmen oder Eltern können Englischkurse für Fremdsprachige besuchen und sich dadurch sozial vernetzen.
In den CAS Community Schools haben alle Kinder und Jugendlichen Zugang zu vielfältigen und bewährten Förderkursen und Freizeitaktivitäten (ausserunterrichtliche Angebote), die sich durch die langjährige Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen etabliert haben und die von der öffentlichen Hand unterstützt werden. Die Schulen zeichnen sich zudem durch verlängerte Öffnungszeiten und Ferienangebote aus. Es wird eine intensive Eltern- und Familienarbeit angestrebt, sodass es in jedem Schulhaus einen gemütlichen «Familienraum» gibt. Daneben begleitet die in den USA verbreitetste und älteste Non-Profit-Organisation für Kinderhilfe – Children’s Aid Society – die Schulen mit fachlicher Beratung, bewährten Programmen und einem breiten Netzwerk.
Nach einer gemeinsamen Klärung der lokalen Bedürfnisse unter Einbezug von Kindern und Eltern sowie mit Berücksichtigung der Eigenschaften des Quartiers werden nachhaltige Angebote entwickelt, die vor allem von Partnerorganisationen durchgeführt werden. Die Leitung Soziale Arbeit / Betreuung koordiniert die ausserunterrichtlichen Angebote, die medizinischen, zahnärztlichen, psychologischen und sozialen Dienste im Schulhaus, wie beispielsweise die materielle Unterstützung von einzelnen Familien, und vermittelt Fachstellen.

Was erachten Sie als die wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt?
In den CAS Community Schools findet eine Verzahnung von Schulpädagogik und Sozialer Arbeit auf organisatorischer und räumlicher Ebene statt. So werden beispielsweise über Mittag monatliche Weiterbildungskurse für Lehrpersonen und Fachpersonen der Sozialen Arbeit / Betreuung zusammen angeboten. Ebenso funktioniert die multifunktionale Nutzung der Räume.
Es findet allerdings keine personelle Verzahnung statt. Die ausserunterrichtlichen Aktivitäten und Dienstleistungen sollen vielmehr die Lehrpersonen in ihrem Kerngeschäft entlasten. Schliesslich ist auf der pädagogischen Ebene ein blockartiges aufeinanderfolgen der unterrichtlichen und anschliessenden Förder- und Freizeitangebote zu beobachten. Austauschmomente über die Entwicklung der einzelnen Schülerinnen und Schüler werden vor allem über ein Online-Tool geführt. Schliesslich wird die Förderung der Heranwachsenden letztlich an der Optimierung der schulischen Leistungen gemessen.

Brachte die Recherche vor Ort für Sie auch Überraschendes zutage?
Mich überraschte die hohe berufliche Identifikation und Kommunikationsfreudigkeit der Leitungen Soziale Arbeit / Betreuung und ihr vielfältiges Aufgabenfeld. Sie koordinieren und verantworten die ausserunterrichtlichen Angebote, wobei dazu anders als in der Schweiz auch die medizinischen, zahnärztlichen, psychologischen und sozialen Dienstleistungen gehören. Hingegen sind das Mittagessen und der Zvieri vollständig durch eine Partnerorganisation gesichert. Weiter kommen der Leitungsperson die Eltern- und Familienarbeit und die Vernetzung mit Lehrpersonen und Schulleitung zu.
Positiv überrascht war ich zudem vom unbürokratischen Vorgehen bei der Angebotsentwicklung für die Heranwachsenden und Eltern. Als beispielsweise die Englisch-Abendkurse die angesprochenen Eltern nicht erreichten, schlug der Schulleiter vor, zwei zusätzliche Kurse am Morgen anzubieten. Dies wurde kurzerhand und mit Erfolg umgesetzt.
Schliesslich erhielt ich vor Ort ein ernüchterndes Bild von den grossen sozialen Herausforderungen, die mit denen in der Schweiz kaum vergleichbar sind. Dennoch bestehen verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schulmodellen wie beispielsweise die aktiv aufsuchende Eltern-, Kinder- und Jugendarbeit.

Was ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung für Schweizer Tagesschulen?
In der Schweiz sind in öffentlichen Schulen ausserhalb des Tagesschulmodells bereits einzelne integrierende Lernangebote etabliert. So zum Beispiel Projektwochen, -tage oder -stunden, Klassenlager sowie medizinische, zahnärztliche oder psychologische Dienste. Ebenso ist das fachliche Lernen am Vormittag und am Nachmittag – ganztägig – bereits gegeben, was beispielsweise in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten nicht der Fall war.
Dennoch bestehen je nach Blickpunkt unterschiedliche Herausforderungen:

  • Aus Sicht der Schulleitung und der Leitung Betreuung besteht eine grosse Herausforderung in der Entwicklung von ausserunterrichtlichen Angeboten, welche eine ganzheitliche Förderung bei gleichzeitiger Gewährung von pädagogischen Schonräumen sichern – dies im Rahmen der begrenzten finanziellen Mittel. Zudem hat die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen wie Jugendarbeit, Sportvereinen oder privaten Anbietenden begonnen und ist auszubauen. Weiter sind Themen des Kinder- und Jugendschutzes im Rahmen von ausserunterrichtlichen Angeboten in der Schule noch vermehrt zu reflektieren und zu berücksichtigen.
  • Mir scheint, dass eine grosse Herausforderung aus Sicht der Eltern darin besteht, die Mittagszeit und die ausserunterrichtlichen Förder- und Freizeitaktivitäten in der Schule als Lern- und Erholungsmoment für die Heranwachsenden zu verstehen. Zudem sind diese Angebote für gewisse Eltern mit finanziellen Hürden verbunden.
  • Aus Sicht der Lehrkräfte und Fachpersonen Soziale Arbeit / Betreuung sehe ich eine grosse Herausforderung in der Anerkennung der anderen Professionen und deren Lernangebote für die Heranwachsenden. Zudem ist der Mehrwert der Zusammenarbeit mit den zeitlichen und anstellungsbezogenen ungleichen Rahmenbedingungen herausfordernd und noch ungenügend als gewinnbringend erlebbar.
  • Schliesslich soll die Sichtweise der Kinder und Jugendlichen – wenn möglich mit geringer Interpretationsfolie durch Erwachsene – vermehrt in die Gestaltung der ausserunterrichtlichen Angebote einfliessen.