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Opfer trifft Täter: Restaurative Dialoge werden im Jugendstrafrecht kaum eingesetzt

Restaurative Justiz erhält seit einigen Jahren im internationalen Strafvollzug stark Auftrieb. In der Schweiz ist man noch zurückhaltend, vor allem im Jugendbereich. Eine ZHAW-Absolventin hat erstmals die Hintergründe untersucht.

Die Jugendkriminalität nimmt zu in der Schweiz, vor allem werden mehr Gewaltstraftaten verübt. (Bild: iStock)

von Regula Freuler

Angst vor der Dunkelheit oder geschlossenen Räumen, Albträume und Panikattacken: Darunter leiden viele Opfer von Gewaltverbrechen, oft jahrelang. Während sich die Justiz aufwendig mit Bestrafung und Resozialisierung von Tätern befasst, müssen die Opfer selbst mit ihren Traumata umzugehen lernen. Diese Prozesse laufen voneinander losgelöst.

Hier setzt das Konzept der restaurativen Justiz an: Beide Seiten erzählen einander, wie sie die Tat erlebt haben und welche Folgen sie hatte. Bei manchen Opfern nimmt die Angst danach ab, bei anderen die Rache- und Hassgefühle. Das kann befreiend wirken. Einem Täter ins Gesicht zu sagen, wie sehr das Verbrechen ihr Leben erschüttert hat, empfinden einige auch als Genugtuung.

Für die Täter wiederum bieten solche Begegnungen eine Möglichkeit, die Konsequenzen ihrer Tat zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen. Im besten Fall sinkt das Rückfallrisiko, wie Studien zeigen. 

Skepsis ist gross

Der restaurative Ansatz wird seit einigen Jahren stark gefördert. Im Oktober 2018 empfahl der Europarat seinen Mitgliedstaaten, restaurative Justiz in die Strafjustiz zu integrieren. In der Schweiz werden Restorative-Justice-Programme seit 2017 in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg und seit letztem Jahr in Bostadel sowie in Haftanstalten im Kanton Waadt durchgeführt – allerdings nur mit Erwachsenen. Selbst im Jugendgefängnis Les Léchaires konnten bisher nur junge Erwachsene zwischen 18 und 23 Jahren an RJ-Settings, wie man die Programme auch nennt, teilnehmen.

Unter welchen Bedingungen liesse sich das ändern? Mit dieser Frage beschäftigte sich ZHAW-Absolventin Shirine Tissira in ihrer Masterarbeit. Das Fazit: Die Skepsis unter Fachleuten ist gross, aber sie sehen durchaus Möglichkeiten, wie restaurative Prozesse im Jugendalter eingesetzt werden könnten. 

Opfer wollen ihr Leben zurück

Tissira befragte neun Fachleute, die im ambulanten oder im stationären Bereich mit jugendlichen Straftätern und Opfern tätig sind. «Die Mehrheit der Interviewten wusste nicht genau, worum es bei Restorative Justice geht.» Das liege unter anderem am differenzierten Schweizer Jugendstrafrecht: «Es gibt bereits eine breite Palette an Massnahmen und massgeschneiderten Programmen für Tatpersonen. Der Bedarf nach einem weiteren Angebot ist darum nicht augenfällig.» 

«Delikte wie Cybermobbing unter Jugendlichen nehmen zu, entsprechend gross ist das Bedürfnis nach wirkungsvoller Prävention und angemessener Opferhilfe.»

Shirine Tissira, ZHAW-Absolventin und Sozialarbeiterin

Zudem hat die Jugendstrafrechtspflege in der Schweiz die Möglichkeit, einen aussergerichtlichen Mediationsprozess zu initiieren. Anders als ein RJ-Setting im engeren Sinn ist eine Mediation bei minderjährigen Straftätern strafersetzend und nicht strafbegleitend oder straffolgend. «Eine Tatperson hat darum ein ungleich höheres Interesse an einer Mediation als an einem restaurativen Dialog, der keine Auswirkungen auf die Strafe hat», sagt Tissira. Sie kennt sich aus:  Während viereinhalb Jahren hat sie bei der Jugendanwaltschaft mit jugendlichen Tätern und Täterinnen gearbeitet. Viele Opfer wiederum haben kein Interesse an einem Abkommen zugunsten des Täters.

Ein Mediationsprozess geht in der Regel vom Täter aus, Restorative Justice hingegen vom Opfer. Im Zentrum steht dessen psychischer Heilungsprozess. Aus diesem Geist heraus entstand die Bewegung in den 1970er-Jahren in den USA.

Hohe Voraussetzungen

«Gerade in punitiven Gesellschaften sind Strafverfahren extrem täterorientiert. Opfer wollen in erster Linie ein Leben haben, wie es vor der Tat war. Eine harte Bestrafung des Täters trägt aber nichts dazu bei», sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention. Er hat Shirine Tissiras Masterarbeit betreut. Restaurative Justiz könne darum eine sinnvolle Ergänzung bieten. «Wenn RJ-Settings bei einem Täter etwas auslösen, ist das gut. Aber ein solches Programm sollte sich nicht daran messen lassen müssen, was es den Tätern bringt, sondern den Opfern.»

Sowohl in der internationalen Forschung wie auch unter den für die Masterarbeit befragten Fachleuten herrscht Einigkeit darüber, dass die Adoleszenz grundsätzlich als ein zumutbares und geeignetes Alter für restaurative Prozesse ist. Allerdings gilt es, bestimmte Voraussetzungen unbedingt zu erfüllen, damit es nicht zu einer Retraumatisierung des Opfers kommt. Dieses muss freiwillig mitmachen und deutlich erkennbar seelisch wie auch körperlich stabil sein.

«Restorative-Justice-Settings sollten sich nicht daran messen lassen müssen, was es den Tätern bringt, sondern den Opfern.»

Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention

Hierin besteht laut Shirine Tissira, die seit August als Sozialarbeiterin im Kinder- und Jugendhilfezentrum Pfäffikon tätig ist, eine der grössten Herausforderung. «Es braucht relativ lange, bis ein Trauma genügend verarbeitet worden ist, um an einem restaurativen Dialog teilnehmen zu können», weiss die Sozialarbeiterin. Nicht selten bestehe in diesem Alter zudem ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Opfer und Täter, gerade bei Sexualverbrechen. In solchen Fällen empfehle sich weniger eine Direktbegegnung wie in einer Mediation, sondern eine Querbegegnung von Personen unterschiedlicher Delikte desselben Delikttypus.

Bei psychopathologisch gestörten jugendlichen Tätern oder solchen mit massiven Persönlichkeitsentwicklungsstörungen schliessen die interviewten Fachleute ein RJ-Setting aus. Das heisst, ein Täter muss einsichtig, reuig und empathisch sein.

Präventiv einsetzbar

Je schwerer das Delikt, desto sorgfältiger müssen die vorangehenden Abklärungen und die Begleitung des Prozesses ausfallen, sind die befragten Fachleute überzeugt. Grundsätzlich schliessen sie aber kein Delikt für einen RJ-Prozess kategorisch aus, zumal auch die internationale Forschung zeigt, dass RJ-Prozesse sich insbesondere bei schwerwiegenden Straftaten als effektiv erweisen.  

Mögliche Einsatzgebiete der restaurativen Justiz sehen die Fachleute nicht nur bei strafrechtlichen Delikten, sondern auch in Form präventiver Interventionen bei Konflikten wie Mobbing an Schulen oder bei Sachbeschädigungen oder kleinere Diebstähle, die zu keiner Strafanzeige geführt haben. «In anderen Ländern läuft sehr viel in diesem Bereich», sagt Shirine Tissira, «von diesen Erfahrungen könnte man profitieren.»

Sie hofft, dass man mit weiteren wissenschaftlichen Projekten auch die Schweizer Fachkräfte vom Nutzen der restaurativen Justiz im Jugendbereich überzeugen kann. Wichtig sei zu eruieren, welches Angebot für welche Zielgruppe sinnvoll und vertretbar ist. Auch eine Weiterentwicklung von Mediationsprozessen im jugendstrafrechtlichen Bereich hält sie für denkbar. «Delikte wie Cybermobbing unter Jugendlichen nehmen zu, entsprechend gross ist das Bedürfnis nach wirkungsvoller Prävention und angemessener Opferhilfe.»