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Angemessen handeln im Fremdplatzierungsprozess

Kaum ein anderes Thema des Kindesschutzes erhält medial so viel Aufmerksamkeit wie die Fremdplatzierung von Kindern. Doch wie geht es nach einem Platzierungsentscheid weiter?

Ein Mädchen sitzt am Tisch. Die Mutter steht hinter ihr und lächelt.

von Stefan Eberitzsch, Samuel Keller, Gabriele E. Rauser und Sasha Staiger Marx

Die zehnjährige Alina Gmür lebt allein mit ihrer Mutter Patrizia in einer Agglomerationsgemeinde im Mittelland, zum Vater gibt es keinen Kontakt. Patrizia Gmür hat in den letzten Jahren häufig die Arbeitsstelle gewechselt, die Kleinfamilie zog mehrfach um. Seit einiger Zeit ist Patrizia Gmür immer öfter ohne Grund sehr traurig. In diesen Phasen zieht sie sich in ihr Zimmer zurück oder verlässt erst gegen Mittag das Bett. Alina ist oft auf sich allein gestellt. In der Schule fällt auf, dass sie häufig keinen Znüni dabei hat oder nicht der Jahreszeit angemessen gekleidet ist. Als bei Patrizia Gmür eine akute Depression diagnostiziert wird und ein stationärer Aufenthalt unumgänglich wird, muss auch für Alina gesorgt werden. Nach den vielen Wohnortwechseln sind keine Verwandten und Freunde mehr in der Nähe, weshalb für Alina sofort eine Lösung gefunden werden muss. Die für Patrizia Gmür zuständige Notfallpsychiaterin gibt eine entsprechende Meldung an die KESB weiter. Diese errichtet eine Beistandschaft für Alina mit dem Auftrag, ein geeignetes Heim oder eine geeignete Pflegefamilie zu suchen. Dazu erlässt sie eine vorsorgliche Sofortmassnahme. Gemeinsam mit Alina wird in Kürze ein Heim gefunden, das nicht weit weg ist und ihr gefällt.

Zwischen Hilfe und Kontrolle

Der fiktive Fall von Alina illustriert, wie es zu einer Fremdplatzierung kommen kann. Trotz Dringlichkeit wird nicht leichtfertig und möglichst zusammen mit den Betroffenen entschieden. Manchmal aber ist eine durch die KESB angeordnete Platzierung unumgänglich. Neben der Entscheidung für eine Platzierung ist auch deren Umsetzung eine hoch anspruchsvolle Aufgabe: Die involvierten Fachpersonen sind dabei stets mit dem Dilemma von Hilfe und Kontrolle konfrontiert.
Patrizia Gmürs Zustand stabilisiert sich in den darauffolgenden Wochen nur langsam. Doch sie kann Alina regelmässig in der Heimgruppe besuchen. Auch finden dort Beratungsgespräche statt, die sie dabei unterstützen sollen, ihre Mutterrolle neu zu finden und weiterhin auszufüllen. Der Beistand und die Fachpersonen im Heim helfen Alina in vielerlei Hinsicht: So lernt sie ihre Bedürfnisse einzubringen und nach und nach besser zu verstehen, warum ihre Mutter manchmal so abwesend ist. Darüber hinaus findet sie gut Anschluss zu ihren Peers in der Schule und kann das Schuljahr relativ erfolgreich abschliessen.
Für die Fachpersonen, die die Situation im Heim und zuhause regelmässig prüfen, stellt sich die spannungsreiche Frage, ob für Alina eine baldige Rückkehr zur Mutter möglich ist oder inwiefern eine längerfristige Platzierung die bessere Lösung zur Sicherstellung des Kindeswohls wäre. Denn Alina vermisst das Leben bei ihrer Mutter, die den stationären Aufenthalt inzwischen zwar beenden konnte, sich aber (noch) nicht genügend belastbar fühlt, um für Alina zu sorgen. Gleichzeitig gefällt es Alina im Heim sehr gut, wo sie sich auch sichtlich entfalten kann. Insofern bedarf es einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Heim, Beistand und Mutter, damit die Beziehung zur Tochter positiv aufrechterhalten wird und so eine Rückkehr möglich bleibt.

Bedarf an Fachwissen und Orientierung

Über die im Platzierungsbeispiel angedeuteten Anforderungen hinaus hat das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) seit 2013 allgemein zu einer grossen Nachfrage nach Fachwissen und Orientierung geführt. Es ergaben sich neue Rollen- und Anpassungsanforderungen für die involvierten Dienste und Fachpersonen: Die Fachpraxis ist im Einzelfall tagtäglich mit komplexen Fragen und Herausforderungen konfrontiert. Der Bedarf an fachlicher Orientierung zur Qualitäts- und Haltungsentwicklung, die wissenschaftliche Erkenntnisse mit Erfahrungen der Praxis verknüpft, ist daher im Feld der Fremdplatzierung erheblich. Ein Indiz hierfür ist die anhaltende Nachfrage nach dem «Leitfaden Fremdplatzierung» (Integras 2013). Diese Publikation legt ihr Augenmerk auf die unterschiedlichen Anforderungen und Dimensionen vor, während und nach der Platzierung. Vor diesem Hintergrund und auf Anregungen von Fachpersonen hin entstand das von der Gebert Rüf Stiftung geförderte Projekt «WiF – Wissenslandschaft Fremdplatzierung»: ein Kooperationsprojekt zwischen Integras, Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik, und der ZHAW Soziale Arbeit, Institut für Kindheit, Jugend und Familie.

WiF – Wissenslandschaft Fremdplatzierung

Im Rahmen von WiF wurde das Wissen aus dem Feld der Fremdplatzierung in einem dialogischen Vorgehen zwischen Praxis und Wissenschaft (vgl. Eberitzsch/Gabriel/Keller 2017) aufgearbeitet und über eine Online-Plattform zugänglich gemacht. Konkret bedeutet das: Auf der Basis des aktuellen Forschungsstands und ausgewählter Wissensbestände der Praxis wie Handlungsanweisungen oder Prozessbeschreibungen arbeitete das Projektteam den Platzierungs- und Betreuungsprozess sowie Querschnittsthemen wie Diagnostik/Abklärung, Partizipation oder Kooperation idealtypisch aus. In Workshops mit Fachpersonen aus Institutionen wie Sozialdiensten, von Platzierungsangeboten sowie der KESB oder Jugendanwaltschaft wurden diese Vorarbeiten kritisch diskutiert, bewertet und weiter angepasst. So brachte WiF eine ausdifferenzierte Darstellung der zentralen Prozessschritte hervor, die bei der Umsetzung und Begleitung einer Fremdplatzierung wichtig sind. Daneben wurden in Workshops qualitative Themen bearbeitet: Im Fall von Familie Gmür klingt das Querschnittsthema «Beteiligung der Betroffenen» an, wenn es darum geht, die Mutter in ihrer Rolle zu unterstützen oder gemeinsam mit Alina ein Verständnis für die Gesamtsituation zu etablieren. Die Herausforderungen im genannten Fallbeispiel machen deutlich: Es ist in Fremdplatzierungsprozessen zentral, dass die Fachpersonen gemeinsam über die Möglichkeiten zur Beteiligung des Kindes und seines Familiensystems nachdenken – im besten Interesse des Wohls des betroffenen Kindes.
WiF legt zudem Wert auf einen kantonsübergreifenden Ansatz und auf die Passung zu unterschiedlichen Platzierungspraxen. Zugleich können Themen, die für gelingende Platzierungsverläufe bedeutsam sind, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Fälle und Strukturen in der Schweiz nicht einfach als «Best Practice» dargestellt werden. So müssen Unterschiedlichkeiten zugänglich, ersichtlich und diskutierbar sein. Hierzu dienen nicht starre Wahrheiten, sondern systematisch formulierte Reflexionsfragen, die Fachpersonen zur Reflexion ihres professionellen Handelns anregen sollen. Eine Ambivalenz im Fall von Alina ist beispielsweise die Frage nach einer längerfristigen Ausrichtung der Platzierung: Wo ist das Kindeswohl angemessen gewährleistet? Ist die möglichst schnelle Rückkehr zur Mutter zu forcieren oder soll Alina längerfristig im Heim bleiben, einem Umfeld, das offenbar eine positive Wirkung auf das Mädchen hat? Neben Prozessdarstellungen, der Vertiefung zentraler Themen und entsprechenden Reflexionsfragen finden sich auf www.wif.swiss zudem Materialien aus Forschung, Wissenschaft und Praxis. Die Plattform entwickelt sich so langfristig zu einem Kompendium der Themen, fachlichen Konzepte und empirischen Ergebnisse, die bei der Umsetzung einer Fremdplatzierung entscheidend sind.

Laufender Dialog zwischen Forschung und Praxis

WiF basiert auf der Idee, fachliche Inhalte für einen langfristigen und lebendigen Qualitätsdialog zwischen Praxis und Wissenschaft auf einer Online-Plattform bereitzustellen. Fachpersonen, die sich mit Fremdplatzierungen beschäftigen, können sich auf www.wif.swiss direkt mit konkreten Kommentaren und Vorschlägen an der Fortführung der Inhalte beteiligen. Weiter soll auch die Vertiefung von fachlichen Fragestellungen in Workshops und an Tagungen fortgeführt werden zur stetigen Weiterentwicklung der Plattform. Sie bietet so umfassendes und aktuelles Fachwissen an, damit in Fällen wie dem von Alina die beste Lösung gefunden wird: für das Mädchen selbst und für seine Mutter.