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Wer sich nicht schützt, brennt aus

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Heimen und Pflegefamilien zählt zu den spannendsten, aber anspruchsvollsten im Sozialbereich. Viele halten nicht lange durch.

«Ziel ist, dass Sozialarbeitende schwierige Situationen über die Fachlichkeit und die Reflexion differenzieren und somit besser bewältigen können»: Thomas Gabriel ist Co-Leiter eines neuen Weiterbildungsangebots für Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe. (Bild: iStock)

Von Denise Jeitziner

Carmelo Campanello klingt fröhlich und entspannt am anderen Ende der Telefonleitung – obwohl ein ganzer Arbeitstag hinter ihm liegt und sein Job alles andere als einfach ist. Campanello leitet die Pestalozzi-Jugendstätte Burghof in Dielsdorf. 40 junge Männer zwischen 15 und 20 Jahren leben hier – die eine Hälfte auf Anordnung der KESB oder des Sozialdienstes, die übrigen, weil sie straffällig geworden sind: Suizidversuche, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch, Drogenhandel, Raubüberfälle, Körperverletzungen. Die Bewohner haben in ihrem jungen Alter schon viel erlebt.

Sicherheit geht vor

«Wie die meisten Kinder und Jugendlichen in stationären Institutionen haben sie Mühe, ihre Emotionen zu verstehen und zu regulieren», erklärt Campanello. Sie werden auch einmal gewalttätig, entweichen aus dem Heim oder greifen zu Joints. «Etwa 90 Prozent der Klienten im Burghof haben ein akutes Problem mit Drogen.» Man kann sich also ungefähr ausmalen, wie gefordert die rund 30 Sozialpädagog:innen hier sind. Trotzdem müsse man jeden Tag versuchen, ruhig zu bleiben und das zugrundeliegende Problem im Fokus zu behalten, sagt Carmelo Campanello. «Es geht also nicht nur darum, die jungen Männer vom Kiffen abzuhalten. Sie sollten auch lernen, mit Gefühlen wie Frust, Ohnmacht oder Verzweiflung klarzukommen.»

Aber manchmal sei es einfacher, mit einem Kübel Wasser loszurennen, um einen Schwelbrand zu löschen, statt sich zu überlegen, wo der Brandherd sei. Campanello spricht gerne in Metaphern, und man versteht sofort, was er meint. Es gilt, das wahre Problem hinter den Gefühls- und Gewaltausbrüchen zu erkennen und heisse Situationen möglichst strukturiert zu bewältigen. Die Sicherheit der Mitarbeitenden geht dabei vor. Dass diese physisch und psychisch unversehrt bleiben, ist für Campanello essenziell: «Sie geben sehr viel von sich. Ihre Persönlichkeit ist ein zentrales Instrument, um Versäumnisse in der Erziehung und der Sozialisierung als kritisches Gegenüber oder als Identifikationsfigur zu bearbeiten.»  

Gefahr eines Burn-outs

Das birgt jedoch auch ein erhebliches Risiko, weiss Thomas Gabriel, Leiter des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie: «Insbesondere bei den Menschen, die sich sehr stark engagieren und eine grosse Nähe zu den Kindern und Jugendlichen eingehen, ist die Gefahr eines emotionalen Burn-outs hoch.» Umso wichtiger ist es, die nötigen Ressourcen und richtigen Mittel zu haben, um in diesem fordernden Berufsfeld unbeschadet bestehen zu können. Genau hier gibt es jedoch ein Problem: An den Fachhochschulen werden Sozialpädagog:innen und Sozialarbeitende zunehmend zu Generalist:innen ausgebildet; die Bandbreite reicht von der Kleinkinderbetreuung bis zur Sterbebegleitung. Es bleibt also zu wenig Raum für spezifisches Wissen. Man lerne im Studium beispielsweise nicht, wie man sich konkret verhalten könne, wenn Jugendliche Gewalt ausüben, die Integrität von Betreuungspersonen verletzen oder einen verbal provozieren, sagt Thomas Gabriel. Wer zu wenig gut gewappnet ist, droht schneller auszubrennen.

Die Fluktuation im Heimerziehungsbereich ist entsprechend hoch. Erschwerend hinzu kommen der Schichtbetrieb und die Bezahlung, die schlechter ist als in anderen Praxisfeldern. Der Fachkräftemangel hat die Situation zusätzlich verschärft. «Wir erhalten im Vergleich zu vor drei Jahren kaum noch Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen», sagt Heimleiter Campanello. Ein neues Phänomen ist das allerdings nicht, weiss Thomas Gabriel aus einer Analyse von Kinder- und Jugendheimen zwischen 1950 und 1990. Schon damals sei es ein grosses Problem gewesen, qualifiziertes Personal zu finden. «Das ist bedauerlich, denn das Berufsfeld ist extrem spannend.»  

Umgang mit schwierigen Situationen

Das wachsende Problem will man nun aber entschärfen – mit spezifischen Weiterbildungen für Fachpersonen. Bei der ZHAW startet im Herbst ein neuer CAS-Lehrgang. «Ziel ist, dass Sozialarbeitende schwierige Situationen über die Fachlichkeit und die Reflexion differenzieren und somit besser bewältigen können», erklärt Thomas Gabriel. Carmelo Campanello wird ebenfalls unterrichten. Sein Thema: «Thinking under fire». Die Teilnehmenden lernen etwa, wie sie in bedrohlichen Situationen die eigenen Gefühle als Seismografen für die Perspektive der Jugendlichen nutzen können. «Die Emotionen, die ein:e Klient:in bei einem Mitarbeitenden auslöst, sagen viel über die Befindlichkeit der Klientin bzw. des Klienten aus», erklärt Campanello und nennt das Beispiel eines Jugendlichen, der stinksauer und unerwartet aggressiv zur Wohngruppe zurückkehrt. «Wenn ich ihn konfrontiere, kann die Situation eskalieren. Wenn ich ihm stattdessen mitteile, was er durch sein aggressives Verhalten bei mir auslöst und beispielsweise sage: ‹Jetzt fühle ich mich unwohl. Was habe ich getan?›, wird er womöglich innehalten und erwidern: ‹Der Lehrmeister ist ein Idiot, er hat mich genervt.›» So ergebe sich die Chance, die Situation zu entschärfen, sowie die Emotionen des Jugendlichen zu verbalisieren und sie ihm selbst zugänglich zu machen.  

Herausfinden, was einem gut tut

Campanello betont aber, dass nicht nur persönliche Kompetenzen, sondern auch institutionelle Konzepte nötig seien, um in Stresssituationen richtig reagieren zu können. «Wichtig ist, dass diese Konzepte den Mitarbeitenden den nötigen Raum lassen, um gemeinsam mit den Klient:innen individuelle Lösungen erarbeiten zu können.» Im Burghof zählen auch Supervisionen, Weiterbildungen, Intervisionen, sowie der Austausch und das Reflektieren mit Arbeitskolleg:innen zum Standard. «Im Vergleich zu vor 20 Jahren stehen Mitarbeitenden in sozialpädagogischen Institutionen vermehrt Instrumente, also Ressourcen, zur Verfügung, um mit den belastenden Situationen klarzukommen», sagt Heimleiter Carmelo Campanello. Sie helfen dabei, herauszufinden, was einem gut tue. Wie es am Telefon klingt, scheint er seine Instrumente für sich gefunden zu haben.

Neue Weiterbildung für den stationären Bereich

In diesem CAS lernen Sie, Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern wirkungsvoll im sozialpädagogischen Alltag zu unterstützen, den Umgang mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen sowie über professionelle Haltungen.

CAS Professionelles Arbeiten in der Heimerziehung und in Pflegefamilien