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Parteipolitik? Nein danke!

Obwohl sie sich damit für benachteiligte Menschen starkmachen könnten, üben nur wenige Sozialarbeitende ein politisches Amt aus. Was hält sie davon ab? Selin Demircali kennt die Antwort.

Sollten Sozialarbeitende strukturelle Bedingungen für ihre Klient:innen mittels politischem Engagement mitgestalten? (Bild: Keystone)

Von Joel Bedetti

Seit zwei Jahren ist Selin Demircali im Vorstand der SP Weinfelden – ein Amt, das sie bereits neben ihrem Studium an der ZHAW innehatte. Mit ihrem parteipolitischen Engagement war sie unter ihren Kommiliton:innen eine Ausnahme. Es haben sich zwar viele für Politik interessiert, aber kaum jemand wollte sich in einer Partei engagieren. Demircali wollte herausfinden, weshalb das so ist und wie sich das ändern liesse – und hatte damit das Thema für ihre Masterarbeit gefunden, mit der sie vergangenes Jahr ihr Studium abschloss.

Sozialarbeitende bewegen sich von Berufs wegen in einem Spannungsfeld: Engagiert und professionell stehen sie ihren Klient:innen in persönlichen Lebensumständen zur Seite, ihre Handlungsfähigkeit wird dabei aber oft durch politisch stark beeinflusste Vorgaben beschränkt. Es ist naheliegend, dass Sozialarbeitende sich über die Verbesserung der persönlichen Situation hinaus für ihre Klient:innen einsetzen wollen. Etwa, indem sie sich für bessere politische Rahmenbedingungen von benachteiligten Menschen starkmachen. Der Weg dazu? Zu erwarten wäre: einer Partei beitreten und ein Amt übernehmen. So wie Demircali es tat.  

Pflicht oder Risiko?

Was logisch scheint, ist jedoch umstritten. Es gibt zwar durchaus Stimmen, die es als Aufgabe der Sozialen Arbeit verstehen, strukturelle Bedingungen der Klient:innen zu gestalten und in politischen Debatten für deren Rechte einzustehen. Diese finden beispielsweise, die Profession habe es verpasst, sich in die Debatte um Sozialhilfe-Missbrauch in den Nullerjahren einzubringen. Andere hingegen verstehen Sozialarbeitende als staatlich angestellte Dienstleister:innen, die mit einem politischen Engagement ihre Kompetenzen überschreiten und womöglich Klient:innen instrumentalisieren, so die Befürchtung.  

Doch zurück zu Demircalis Frage: Was hält ihre Berufskolleg:innen davon ab, sich parteipolitisch zu engagieren? In einer quantitativen Untersuchung befragte sie dafür die Mitglieder des Berufsverbands AvenirSocial Region Ostschweiz. Ein Verband übrigens, der im Berufskodex explizit zum politischen Engagement auffordert. Kodex hin oder her: Politische Mandate sind auch bei AvenirSocial-Mitgliedern rar. An Demircalis Befragung nahmen 102 Personen teil, nur gerade 10 von ihnen üben ein politisches Amt aus. Interessiert hat sich Selin Demircali für die anderen 92 Personen. Also diejenigen, die kein aktives Mandat ausüben. Mithilfe ihrer Antworten hoffte Demircali, besser zu verstehen, wie Sozialarbeitende zu einem politischen Amt stehen und was sie beeinflussen würde, eines anzunehmen.  

Politischer als der Durchschnitt

In einer Online-Umfrage konnten die Teilnehmenden bei den einzelnen Fragen jeweils sieben Kästchen ankreuzen – von keiner Zustimmung (1) bis zur vollen Zustimmung (7). Für die Auswertung ermittelte Demircali die Summe der Antwortpunkte und teilte diese durch die Anzahl der befragten Personen. Was dabei herauskommt, ist der Mittelwert. Liegt er über der Skalenmitte, ist die Tendenz positiv, darunter ist sie negativ.

Ein wichtiger Befund der Masterarbeit: Die Befragten sind einem parteipolitischen Engagement gegenüber klar positiv (Mittelwert: 5,01) eingestellt. Noch klarer (6,11) vertreten ist die Auffassung, dass sie sich damit für ihre Klient:innen zusätzlich starkmachen könnten. «Die hohe Zustimmung hängt womöglich auch damit zusammen, dass die Befragten Mitglied im Berufsverband sind», vermutet Demircali. Fast die Hälfte aller Befragten zeigt sich ausserdem politisch interessiert. Das ist eine höhere Quote, als Personen mit tertiärer Ausbildung in der Schweiz durchschnittlich haben.  

Der Faktor Zeit

Je verbindlicher sich die Sozialarbeitenden aber zum politischen Engagement äussern mussten, desto tiefer wurde die Zustimmung. So fiel die Absicht, künftig ein politisches Amt auszuüben, negativ (3,2) aus. Man nennt das «kognitive Dissonanz», wie Demircali sagt. Auch andere Untersuchungen im deutschsprachigen Raum kamen zu diesem Befund.

Gegen ein politisches Engagement spricht dabei vor allem eines: die Zeit. Vorherrschende Meinung unter den befragten Sozialarbeitenden ist, dass ein politisches Amt einen grossen Aufwand mit sich bringt (Mittelwert: 5,98). Zudem sinkt bei den Befragten mit zunehmendem Alter die Absicht, parteipolitisch aktiv zu werden. Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu einer anderen wissenschaftlichen Untersuchung aus Deutschland. Diese zeigt, dass politisches Engagement unter Sozialarbeitenden im Alter zwischen 31 und 35 Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht und dann erneut zwischen 56 bis 60 einen zweiten Höhepunkt findet. Bei dieser Untersuchung ging es jedoch generell um politische Aktivität und nicht nur um parteipolitisches Engagement, betont Demircali, was den mutmasslichen Widerspruch auflösen könnte. «Womöglich sind ältere Sozialarbeitenden bereits anderweitig eingebunden und ziehen deshalb weniger zeitintensive Engagements als offizielle Ämter vor», sagt die Absolventin der ZHAW.  

Flexible Arbeitgeber:innen

Unbestritten ist, dass Zeit bei einem politischen Engagement eine Rolle spielt. Vermutlich deshalb machen die Befragten ihre Entscheidung für ein politisches Mandat auch davon abhängig, wie ihr Umfeld darüber denkt. Am wichtigsten ist die Meinung der Familie (4,77), gefolgt vom Freundeskreis und von Arbeitskolleg:innen. Weniger Einfluss hat, was der oder die Arbeitergeber:in dazu meint (3,82). Obwohl gerade da eine Spannung besteht, wie Selin Demircali weiss: «Bei Bewerbungen gab ich mein politisches Engagement nicht immer an.» Sie befürchtete, in gewissen Gemeinden wäre nicht gern gesehen worden, dass sie sich für die SP engagiert.

Seit letztem Dezember arbeitet Demircali bei den Sozialen Diensten der Stadt Zürich. Nun muss sie Beruf und Politik unter einen Hut bringen. «Ich hoffe, dass ich für eine Sitzung auch einmal früher von der Arbeit weggehen kann», sagt sie und ist damit optimistischer als die Teilnehmenden ihrer Studie. Diese bewerten ein Entgegenkommen im Job als eher unwahrscheinlich (3,10). Das hat Demircali erstaunt, da Personen mit einem politischen Amt laut Arbeitsrecht Anspruch auf einzelne freie Tage haben. «Entweder ist dies ein Hinweis darauf, dass die Befragten ihre Rechte nicht genügend kennen – oder es zeugt von einer gegenteiligen Alltagspraxis.» Dabei wäre Entgegenkommen an der Arbeitsstelle einer der Schlüssel für mehr parteipolitisches Engagement: Bei der Mehrheit (5,13) würde das die Motivation für ein Amt steigern.  

Politik im Studium motiviert

Ebenfalls motivierend (5,20) wäre laut den Befragten, wenn während der Ausbildung die nötigen Fähigkeiten dazu vermittelt würden. Selin Demircali wollte deshalb wissen, ob ein Studium der Sozialen Arbeit das nötige Rüstzeug bietet, um sich nicht nur um Einzelfälle, sondern auch um politische Strukturen zu kümmern. Die Zustimmung dazu war knapp positiv (4,07).

Im angelsächsischen Raum, wo die politisch aktive Rolle der Sozialen Arbeit weniger umstritten ist als im deutschsprachigen Kulturraum und auch eine längere Tradition hat, fordern Forschende eine stärkere Integration von politischen Inhalten in die Ausbildung. Mit gutem Grund: Eine US-Studie ergab, dass ein entsprechendes Training von Studierenden deren Absicht steigerte, künftig für ein Amt auf lokaler Ebene zu kandidieren, und zwar von 37 auf beeindruckende 68 Prozent. Demircalis Schlussfolgerung: Statt nur mit elementaren Politikkenntnissen sollten Studierende der Sozialen Arbeit die Hochschule auch hierzulande mit einem fundierten Verständnis von politischen Prozessen verlassen. Ob die ZHAW entsprechende Module ins Studium integrieren sollte, hängt wiederum von der Frage ab, wie politisch Soziale Arbeit sein soll.