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Soziale Ungleichheit und die Altersreform 2020

Die Ungleichheit im Alter wird immer grösser. Im Rahmen der laufenden Diskussion um die Altersreform 2020 sollte eine Umverteilung von Reichen zu Armen noch gezielter eingefordert werden. Dazu kann sich die Soziale Arbeit auf das theoretische Konzept der Intersektionalität abstützen.

Ein älterer Mann steht vor einer Mülltonne und greift hinein.
Quelle: iStock.com/Cylonphoto

von Heinrich Zwicky
Die Ungleichheit der Lebenschancen und damit umgekehrt auch der Betroffenheit von sozialen Problemen hat in der Schweiz, aber auch in vielen anderen Ländern in den letzten Jahren wieder zugenommen. Vor diesem Hintergrund tut die Soziale Arbeit gut daran, sich wieder vermehrt mit Fragen der sozialen Ungleichheit auseinandersetzen.
Ökonomische und soziologische Studien belegen diese Zunahme der sozialen Ungleichheit. Dabei wird im 2016 erschienen Sammelband von Bude & Staab die Diagnose unter dem Untertitel «neue Verwerfungen» differenziert: Die Ungleichheit zwischen den Ländern hat in den letzten Jahren tendenziell abgenommen, die Ungleichheit  innerhalb der Nationalstaaten hingegen ist grösser geworden.
Damit richtet sich der Blick wieder stärker auf die Frage, inwieweit der Nationalstaat und insbesondere die Sozialversicherungssysteme einen Beitrag zur Umverteilung von Reichen zu Armen leisten können.

Kumulierung von sozialen Ungleichheiten im Lebenslauf

Herkömmliche Studien zur sozialen Ungleichheit gehen kaum darauf ein, dass sich die Ungleichheit im Lebenslauf kumulieren, also von einer Reichtums- bzw. Armutsdynamik auszugehen ist. Finanziell Bevorzugte werden immer reicher, während Benachteiligte im Vergleich dazu immer weiter «zurückfallen». Auch hier sind die Wirkungsmechanismen vielfältig und können an dieser Stelle nicht im Detail beschrieben werden. Beispiele sind, dass Privilegierte weniger gesundheitliche Probleme haben und dadurch auch weniger mit krankheitsbedingten Einkommensverlusten konfrontiert sind. Oder dass sich finanziell Bessergestellte in jungen Jahren eher ein Eigenheim leisten können und gerade in Zeiten tiefer Hypothekarzinsen von Jahr zu Jahr mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Das Resultat dieser Dynamiken ist, dass die Ungleichheit im Alter deutlich grösser ist als in der Gesamtbevölkerung oder in jüngeren Altersgruppen.

Die Rolle der Altersvorsorge

Die Reduktion der im Lebenslauf verschärften Ungleichheiten war ein wichtiges Ziel beim Aufbau der schweizerischen Altersvorsorge seit dem 2. Weltkrieg. Entsprechend enthält die AHV als 1. Säule der Altersvorsorge zusammen mit dem System der Ergänzungsleistungen am meisten Umverteilungselemente. Einerseits werden die AHV-Beiträge im ursprünglichen Umlageverfahren in Relation zur Lohnhöhe berechnet, die Renten andererseits haben einen eingeschränkten Schwankungsbereich (aktuell zwischen Fr. 14‘100.- und Fr. 28‘200.- pro Jahr für eine Einzelperson).
Die Umverteilungswirkung der AHV blieb über die Jahre grundsätzlich erhalten, wurde lediglich in dem Masse abgeschwächt als Beiträge aus der Mehrwertsteuer dazukamen, welche finanziell schlechter Gestellte stärker belasten als Lohnabzüge. Die 2. und 3. Säule der Altersvorsorge haben dagegen einen ungleichheitserhöhenden Effekt: Personen mit höherem Einkommen können sich mehr Geld ansparen und erhalten dabei auch einen grösseren «Zustupf» seitens der Arbeitgebenden.

Altersreform 2020

Die Altersreform 2020 hat vor dem Hintergrund von demografischen Veränderungen und Finanzierungsproblemen das Ziel, die Altersvorsorge als Gesamtsystem für die Zukunft zu sichern. Im Laufe der nächsten Monate sollte im Parlament an der Differenzbereinigung gearbeitet werden. Eine Volksabstimmung wird gegenwärtig für Herbst 2017 in Aussicht genommen.
Auf der Basis der vorangehenden Überlegungen sollte der konkrete Vorschlag wesentlich danach beurteilt werden, ob er einen Beitrag zur Reduktion der immer grösseren Ungleichheit im Alter leistet. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass bei einer relativen Stärkung der 1. Säule (AHV) zulasten der 2. Säule (Pensionskassen) dieses Ziel erreicht wird. Im umgekehrten Fall würde die Ungleichheit im Alter zusätzlich erhöht. Grundsätzlich wäre für eine ungleichheitsreduzierende Altersvorsorge auch zu fordern, dass die Mehrwertsteuerfinanzierung der AHV zurückgefahren und die Lohnprozentfinanzierung erhöht wird. Ein solcher Vorschlag hätte aber wahrscheinlich erst dann eine Realisierungschance, wenn die Vorlage an der Urne scheitern würde.

Armut im Alter

Weniger umstritten als das Bestreben, Ungleichheit zu reduzieren, ist in der Politik und im öffentlichen Diskurs die Ansicht, dass das Gesamtsystem der Altersvorsorge Armut im Alter verhindern sollte. Dabei wurde erst in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts damit begonnen, Armut in der Schweiz zu untersuchen. 1998 ist eine erste gesamtschweizerische Armutsstudie von Leu, Burri & Priester (1998) erschienen, die den Fokus nicht auf Altersarmut legte, sondern im Gegenteil darauf hinwies, dass die Quote der von Armut Betroffenen ebenso wie die sogenannte Armutslücke (Einkommensdifferenz zur Armutsgrenze)  insbesondere dank der schweizerischen Altersvorsorge mit zunehmendem Alter zurückgehen (Daten für 1992).
Eine Studie des Bundesamtes für Statistik im Jahre 2014 („Armut und Alter“) zeichnete dann aber ein anderes Bild. Demnach liegt die Armutsquote der Menschen über 65 Jahren deutlich über jener der jüngeren Altersgruppen und steigt zwischen den 65- bis 75-Jährigen und den Menschen ab 75 von 12,5% auf 22,1% deutlich an (S.8).
Ein wichtiger Aspekt dieses Anstiegs der Altersarmut ist, dass in den letzten Jahrzehnten die 2. Säule in der Altersvorsorge immer mehr an Bedeutung gewonnen hat und trotzdem (bzw. gerade deshalb) hat die Altersarmut offensichtlich zugenommen.
In der aktuellen Diskussion über die zunehmende Altersarmut braucht es allerdings eine kritische Reflexion der verwendeten Indikatoren. So wird teilweise in verkürzender Weise auf den zunehmenden Anteil der Ergänzungsleistungsbeziehenden als Armutsindikator verwiesen.

Intersektionale Perspektive

Der öffentliche Diskurs zur Zukunft der Altersvorsorge ist geprägt von Argumenten, die sich auf die Situation von «Durchschnittsrentnern» (in der Regel Männer) beziehen. Die Soziale Arbeit ist gefordert, hier eine intersektionale Perspektive einzubringen, eine Perspektive also, die systematisch verschiedene Differenzkategorien in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt und darauf basierend gezielte Verbesserungsvorschläge entwickeln kann (vgl. beispielsweise Winkler & Degele 2010). Die bisher vorgebrachten Überlegungen haben sich auf Differenzen und Ungleichheiten in der wirtschaftlichen Lage von Menschen im Alter konzentriert. Eine umfassendere intersektionale Analyse hätte auf jeden Fall auch die Differenzkategorien Geschlecht und Migrationsstatus zu berücksichtigen.
Die oben erwähnten Daten des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass Frauen mit 20% deutlich stärker von Altersarmut betroffen sind als Männer mit 12%. Dies hat wesentlich mit mehr Teilzeitarbeit und einer eingeschränkten Absicherung durch die 2. Säule zu tun. Auch der Blick auf die Frauen, für die in der Altersreform 2020 ein um 1 Jahr höheres Rentenalter vorgesehen ist, spricht eindeutig dafür, die 1. Säule der Altersvorsorge zulasten der 2. Säule zu stärken.
Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass auch Ausländerinnen und Ausländer mit 23% häufiger von Altersarmut betroffen sind als Schweizerinnen und Schweizer mit 16%. Auch hier könnte man mit einem Ausbau der AHV sicher gezieltere Verbesserungen erzielen als mit den anderen Säulen der Altersvorsorge, wobei zusätzlich die Frage von Beitragslücken in der AHV genauer analysiert werden müsste.