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Mit anderen Augen

Sie werden für arrogant gehalten, weil sie nicht zurückgrüssen. Sie essen nicht mehr, weil sie sich schämen. Und sie gelten als dement, weil sie «Dinge sehen». Judith Wildi, Alumna der ZHAW Soziale Arbeit und Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums für Sehbehinderung im Alter (KSiA) will das ändern.

Judith Wildi, Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums für Sehbehinderung im Alter, bei der Arbeit

Sie – das sind alte Menschen mit Sehbehinderung. Im Alltag haben sie mit allerhand Widrigkeiten zu kämpfen – das stark eingeschränkte Sehvermögen selbst ist nur eine davon. Dazu kommt, dass ihr Umfeld oft viel zu wenig auf sie ausgerichtet ist, was ihre Chancen auf Teilhabe zusätzlich mindert. Das Kompetenzzentrum für Sehbehinderung im Alter (KSiA) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Möglichkeiten von alten Menschen mit Sehbehinderung auszuschöpfen und ihre Selbstbestimmung zu erhöhen.
Die Büroräumlichkeiten des KSiA sind eine umfunktionierte Wohnung im Zürcher Kreis 2. Dass die drei Mitarbeiterinnen sich als Arbeitsplatz eine Wohnung teilen, passt gut. Denn ihre Zusammenarbeit ist mehr als eine berufliche Zweckgemeinschaft, ihr Umgang miteinander zeugt von Wertschätzung, Teamgeist und viel Vertrautheit. Fatima Heussler, Magdalena Seibl und Judith Wildi setzen sich mit Engagement für ein Anliegen ein, das ihnen am Herzen liegt – und das verbindet.

Von der Pflegefachfrau zur Mitgründerin

Judith Wildi ist im KSiA für den Bereich Bildung zuständig. Die sympathische Frau mit den vifen Augen und der aufrechten Haltung spricht klar, auf den Punkt und mit bedachten Gesten. Angefangen hat sie ihre berufliche Laufbahn als Pflegefachfrau, das Unterrichten habe sie aber immer schon gereizt, darum auch die Ausbildung zur Berufsschullehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege. Nach verschiedenen Stationen ‒ unter anderem als Lehrerin und Bereichsleiterin in einer Berufsschule ‒ begann 2010 mit ihrer Tätigkeit in der Stiftung Mühlehalde die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Sehbehinderung im Alter. Ein Thema, das sie nicht nur aus der pflegerischen Perspektive, sondern auch aus Sicht der Sozialen Arbeit angehen wollte. Darum folgten Weiterbildungen an der ZHAW Soziale Arbeit in sozialer und psychosozialer Gerontologie mit dem Ziel, den Master in Sozialer Gerontologie zu absolvieren. Im August 2012 gründete sie mit ihren beiden Kolleginnen das KSiA, um fortan das Thema Sehbehinderung im Alter sichtbar zu machen und zu vermitteln.

Schulungen mit Aha-Erlebnis

Der Bereich Bildung des KSiA beinhaltet auch Schulungen für Personal in Langzeitinstitutionen: aus der Pflege und der Sozialarbeit – und von der Hauswirtschaft über die Administration bis zur Küche. Sie dauern von zwei Stunden bis mehrere Tage. In den Kursen geht es um Sensibilisierung durch Selbsterfahrung mit Simulationsübungen und um die fachliche Erweiterung sehbehinderungsspezifischer Kompetenzen. Die Erfahrung, mit eingeschränktem Sehvermögen einen weissen Teller mit farblich nicht abgestimmtem Essen auf einem weissen Tischtuch vorgesetzt zu bekommen, hat schon manches Aha-Erlebnis beschert. Kein Wunder, vergeht manch älteren Menschen die Lust am Essen. Die Schulungen vermitteln Zusammenhänge und konkrete Handlungsansätze: Was macht es alten Menschen mit Sehbehinderung leichter, sich zurechtzufinden und mit wiedergewonnener Selbständigkeit ihre Situation umfassend zu verbessern?

Demenz oder Sehbehinderung?

Etwa 30 Prozent der Menschen über 80 Jahre haben eine Sehbehinderung. Doch in vielen Fällen wird diese nicht erkannt, denn die Symptome ähneln denen einer Demenz. Zum einen ergänzt das Hirn bei einem Gesichtsfeldausfall fehlende Informationen, zum anderen kann es bei Sehschädigungen visuelle Bilder, also Halluzinationen, produzieren. In beiden Fällen deckt sich die Wahrnehmung der sehgeschädigten Person nicht mit der Realität – sie scheint zu fabulieren und wird für dement gehalten. «Interessant ist, dass die Halluzinationen selbst keine Ängste auslösen, wohl aber die Reaktionen der Mitmenschen. Darum ist es so wichtig, dass das Umfeld begreift, was vor sich geht, und mit Verständnis und Erklärungen reagiert statt mit Ungeduld oder Verärgerung», erklärt Judith Wildi. Je mehr sie das Thema ausführt, desto deutlicher wird, dass sie ihre Arbeit nicht als Job, sondern als Lebensaufgabe versteht. Sie fordert, dass bei älteren Menschen genaue ophthalmologische Abklärungen getroffen werden. Diese sollen Aufschluss darüber geben, ob tatsächlich eine Demenz oder nicht doch eine Sehbehinderung vorliegt. Die richtige Diagnose und die damit verbundene Betreuung, Pflege und Aktivierung würde die Lebensqualität der betroffenen Personen massiv erhöhen.

Einsatzstärke auf jedem Parkett

Davon, dass Judith Wildi gerne mit vollem Einsatz im Team an etwas arbeitet, zeugt auch ihr Privatleben: Anders hätten sie und ihre Partnerin es nicht an die Spitze der Schweizer Equality-Tanzszene geschafft. Sich gemeinsam bewegen und hartnäckig am Detail arbeiten, das sagt der engagierten Frau zu. Ihre Begeisterung für das Ausschöpfen der Möglichkeiten alter Menschen und fürs Tanzen konnte sie im CAS Soziale Gerontologie wunderbar miteinander verbinden – mit einer Abschlussarbeit zum Tanzcafé von Verena Speck, bei dem alte Menschen sich einmal im Monat zum Tanz treffen. Auch hier steht die Erweiterung des sozialen Radius im Zentrum. Denn eins will Judith Wildi ganz bestimmt nicht hören: den resignierten Satz nach dem Besuch beim Augenarzt «Da kann man halt nichts mehr machen».

Master of Advanced Studies (MAS) in Sozialer Gerontologie

Wie können alte Menschen in stationären Einrichtungen optimal betreut werden? Welche unterschiedlichen Arbeitsweisen, Interventionsmethoden und Betreuungskonzepte steigern die Lebensqualität aller Beteiligten? Der neue MAS in Sozialer Gerontologie vermittelt fundiertes Wissen aus den gerontologischen Handlungsfeldern und fördert eine praxisbezogene und anwendungsorientierte Auseinandersetzung mit relevanten Themen der sozialen Altersarbeit.

MAS Soziale Gerontologie