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Lokale Nachbarschaft ‒ ein Auslaufmodell?

Die Entstehung und Entwicklung von Nachbarschaften zwischen Vermeidung, Laisser-faire und Sozialraum-Strategie.

Vogelperspektive auf drei Tische mit vielen Leuten dran, die ein Symbol für Nachbarschaft sein sollen.
© Katrin Simonett

von Urs Frey

Die schweizerische Wohnbevölkerung wächst. Die Landschaft verstädtert zusehends und die Städte selbst üben eine wachsende Magnetwirkung aus. Allein für Zürich wird bis 2040 ein Zuwachs um 80’000 Menschen prognostiziert, was etwa der Stadt St. Gallen entspricht. Im Zürcher Boomkreis 9 beherbergt die neue Grosssiedlungen Freilager weit über 2’000 Menschen. Kein Zweifel also, die Menschen rücken einander näher, und mit den neuen Überbauungen entstehen neue lokale Nachbarschaften. Eine spannende Herausforderung für die Soziale Arbeit also, die sich seit ihren Anfängen im elenden Londoner East End des ausgehenden 19. Jahrhunderts für das Zusammenleben im Nahraum interessiert.

Szenen statt lokaler Nachbarschaften?

Nur, ist dieser historische Ort mit dem aufstrebenden Zürich von 2017 zu vergleichen, wo ein mittelständisches Lebensgefühl die Atmosphäre prägt? Was hat hier gemeinwesen- bzw. sozialraumorientierte Soziale Arbeit verloren? Die Frage ist umso mehr berechtigt, als im Zeitalter von Instagram, Skype und EasyJet Beziehungsnetze weit ausgeworfen werden und Wohnen, Arbeiten, Freundeskreise, Freizeitangebote oder Einkaufsmöglichkeiten stark auseinander liegen können. Räumliche Nähe ist weniger denn je eine Voraussetzung für Beziehungspflege. Statt unter Nachbarn finden wir uns immer mehr entlang beruflicher, weltanschaulicher oder anderweitiger Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften, sprich Communities zusammen. Dass die eigene Kirche – so sie denn überhaupt besucht wird – noch im Dorf steht, dass der frequentierte Club ein Ortsverein ist und der Lieblingsladen sich um die Ecke befindet, wird immer unwahrscheinlicher. Ein Trendbericht, im Auftrag der Sozialen Dienste der Stadt Zürich erstellt, prognostiziert denn auch, dass solche szenischen Nachbarschaften wichtiger werden.

Rückzug ist keine Antwort

Areal-Entwickler – zumindest im Luxussegment – tragen das Ihre dazu bei, dass lokale Nachbarschaft gar nicht erst entsteht. Der Concierge beim Empfang oder der direkte Lift von der Parkgarage bis zur Wohnung sorgen dafür, dass man sich nicht unliebsam in die Quere kommt. Für diese Vermeidungsstrategie spricht vieles. Bernd Hamm weist in seinem Standardwerk «Betrifft: Nachbarschaft» darauf hin, dass die oft ideologisch-idealisierende Sicht auf Nachbarschaft von der Tatsache ablenkt, dass es sich hierbei historisch um eine Schicksalsgemeinschaft mit vielfältigen ökonomischen, sozialen und politischen Abhängigkeiten und Zwängen handelte, aus denen es in der Regel kein Entrinnen gab. Und wer wollte bestreiten, dass es Animositäten, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten unter Nachbarn auch heute noch gibt?

Renaissance des Nahraums

Doch Abschottung und Rückzug in die szenische Nachbarschaft funktionieren nur bedingt und sind auch nicht wirklich erstrebenswert. Selbst wer den legendären helvetischen Kleinkrieg um die Waschküche nicht mehr ausfechten muss, weil der eigene Waschturm in der Wohnung steht, hat doch nicht alle Berührungspunkte mit den Nachbarn aus der Welt geschafft. Können wir die kontaktfreudigen Kinder in den eigenen vier Wänden festhalten? Wo leihen wir uns den zusätzlichen Stuhl, wenn die Zahl der Gäste das Erwartete übersteigt? Vielleicht wüsste man sich schon zu helfen, auch ohne Hilfe von nebenan. Doch gute Nachbarschaft ist praktisch und bequem.

Selbst im erweiterten Umfeld, im Dorf oder im Quartier ist der Mensch auf physische Nähe angewiesen. Die Identifikation mit dem Wohnort ist den meisten wichtig. Wie sonst kommt es, dass der Verlust der eigenen Wohnung zu den schmerzhaftesten menschlichen Erfahrungen gehört. Fernbeziehungen und das Knüpfen globaler Netze mögen reizvoll sein, doch sie sind auch kompliziert. Weshalb also nicht ein paar Freundschaften auch im Nahraum kultivieren? Kommt hinzu, dass wir allmählich an die physischen und ökologischen Grenzen der Mobilität gelangen und das Agieren in kleineren Radien den Lebensstil der Zukunft bestimmen wird.

Zwischen Laissez-faire und Sozialraum-Strategie

Auch der Stadtforscher Walter Siebel betont die Bedeutung der modernen lokalen Nachbarschaft, wenn er festhält, dass diese früher eine räumliche Tatsache war, die sich sozial organisiert, während sie heute eine soziale Tatsache ist, die sich räumlich organisiert. Damit unterstreicht er nicht nur die Wählbarkeit der eigenen Nachbarschaft, sondern weckt auch die Vorstellung von Menschen, die bereit und fähig sind, ihr Zusammenleben gemeinsam zu gestalten. An diesem sympathischen Menschenbild ist aus Sicht der Sozialen Arbeit grundsätzlich nichts auszusetzen. Auch Immobilienfirmen überlassen es gerne der bunt zusammengewürfelten Mieterschaft in den neuen Grosssiedlungen, das soziale Zusammenleben in einer Art Laisser-faire-Strategie selber zu entwickeln. Dabei geht es ihnen allerdings vor allem um Kostenersparnis und Verantwortungsdelegation.

Diese Strategie funktioniert erfahrungsgemäss zwar leidlich gut. Dennoch müsste es hellhörig machen, dass gerade neue und traditionelle Wohngenossenschaften, die sich im Umbruch befinden, vermehrt dazu übergehen, sich punktuelle Unterstützung aus dem animatorischen, gemeinwesenarbeiterischen Feld zu holen oder eigens dazu Fachmitarbeitende anzustellen. Denn wo sind das Wissen und das Bewusstsein um den Nutzen und den Mehrwert einer gut gepflegten Nachbarschaft grösser als in diesen in Mitwirkung und Selbstorganisation geübten Organisationen? Solche neue oder erneuerte Siedlungen unter Mitwirkung professioneller Impulsgeberinnen und Begleiter haben das Potenzial, sich zu Zukunftslabors einer guten Nachbarschaft und zu Leuchttürmen des gelingenden sozialen Lebens zu entwickeln.

Quartierentwicklung – kein Luxus, sondern oft Notwendigkeit

Siedlungs- und Quartierentwicklung in enger Zusammenarbeit mit Mieterschaft, Vermietern, Planungsbüros, Immobilienfirmen und Behörden ist auch in mittelständischen Gegenden keineswegs ein Luxus. Wobei unter dem Gesichtspunkt der Sozialen Arbeit das aktuelle Bild der prosperierenden Stadt nicht davon ablenken darf, dass sich – oft an deren Rändern – auch die Verliererinnen und Verlierer dieser Entwicklung sammeln. Ärmere, darunter oftmals ältere Menschen, solche mit kinderreicher Familie oder mit Migrationshintergrund sind bei der Wahl ihres Wohnorts stark eingeschränkt, und auch der Pflege szenischer Nachbarschaften sind engere Grenzen gesetzt. In den sich so mehr notgedrungen denn freiwillig bildenden lokalen Nachbarschaften fand die sozialraumorientierte Soziale Arbeit schon immer ihr angestammtes Arbeitsfeld und wird es wohl nicht so schnell wieder verlieren. Kurzum: Die Sozialraum-Strategie zur Pflege der guten Nachbarschaft bleibt aktuell, notwendig und zukunftsfähig.