Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

«Fachliche Qualität hat immer mit Bildung zu tun»

Von der Resozialisierung zur Risikoorientierung: Dies ist die wohl wichtigste Entwicklung der Sozialen Arbeit im Zwangskontext in jüngster Zeit. Hans-Jürg Patzen vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich gewährt Einblicke.

eine Hand die von oben links kommt öffnet das Türchen eines Gitterkäfigs. Aus dem Gitter fliegt ein Mensch davon.

3000. So lautet die Zahl der Urteile, die pro Jahr beim Justizvollzug im Kanton Zürich eingehen. Der Kernauftrag der Hauptabteilung Bewährungs- und Vollzugsdienste (BVD) wird bereits aus dem Namen deutlich. Vollzug, das kann Einweisung ins Gefängnis oder in eine stationäre Therapie bedeuten. Die Bewährungshilfe setzt mit der bedingten Entlassung an. Daneben führen die BVD im Auftrag der Staatsanwaltschaften verhaltensorientierte Lernprogramme in Gruppen durch. Zur Zielgruppe gehört, wer sich eines Strassenverkehrs-, Vermögens- oder Gewaltdelikts, insbesondere häuslicher Gewalt, strafbar gemacht hat.

Die Hauptabteilung mit 140 Mitarbeitenden ist interdisziplinär zusammengesetzt: Sie besteht aus 45 Sozialarbeitenden, 15 Juristinnen und Juristen, 10 Psychologinnen und Psychologen sowie rund 70 Mitarbeitenden aus verschiedenen Verwaltungsberufen. Support erhalten alle Fallverantwortlichen über die jeweiligen Vorgesetzten sowie vom internen Rechtsdienst und seit 2010 von der Abteilung für forensisch-psychologische Abklärungen.

Rückfallprävention und Risikoorientierung – kein Gegensatz

Hans-Jürg Patzen ist Leiter der Bewährungs- und Vollzugsdienste. Als er 1993 seine Laufbahn als Sozialarbeiter im Justizvollzug begann, habe man fast ausschliesslich die Resozialisierung als Methode in der Kriminalprävention gelten lassen. «Heute ist man schlauer», sagt er und spricht dabei die Risikoorientierung an. Sie basiert auf dem Risk-Need-Responsivity-Modell von Andrews und Bonta (2007), das im Modellversuch Risikoorientierter Sanktionenvollzug (ROS) zwischen 2010 und 2013 in den Kantonen Zürich, St. Gallen, Thurgau und Luzern mit Erfolg erprobt und schliesslich zum Qualitätsstandard in den erwähnten Kantonen erklärt wurde. Hans-Jürg Patzen bezieht sich bei seiner Einschätzung auf Erkenntnisse aus der Rückfallforschung und auf die bescheidene Erfolgsquote der (Re-)Sozialisierungsbemühungen. Diese sei wesentlich darauf zurückzuführen, dass die Bemühungen fast ausschliesslich und wenig individualisiert (ohne eingehendes Assessment) beim Straffälligen angesetzt hätten und die Ressourcenbereitstellung in der Sozialstruktur eines Gemeinwesens nahezu unberücksichtigt liessen. «Sozialarbeit mit Straffälligen ist aber immer auch Gemeinwesenarbeit», erläutert Hans-Jürg Patzen: «Arbeit für eine differenzierte und auf Chancenbildung ausgerichtete Sozialstruktur für Straftäter und Straftäterinnen.»

Evidenzbasierte Kriminalprävention verlangt eine individuelle, persönlichkeitsbezogene und soziale Befunderhebung. Darauf legt die Risikoorientierung nach dem ROS-Modell ihren Fokus. Sie beschäftigt sich mit der Person, ihren Ressourcen, ihren Risikomerkmalen und ihrer Lebenslage. Davon ausgehend sind der Bedarf für Beratung und Interventionen sowie Therapie und Betreuung wie auch die Bereitstellung von stützenden Strukturen und von Kontrollen festzulegen. Der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen forensischen Psychologen, Sozialarbeitenden, Juristinnen und Verwaltungsangestellten kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Haben alle ein klares Verständnis davon, was zu tun und was zu lassen ist? Hans-Jürg Patzen sieht gerade bei diesem Punkt Weiterbildungsbedarf und verweist auf die Angebote der ZHAW für Sozialarbeitende in der Justiz. Um die Methoden der Risikoorientierung und der darauf neu aufgesetzten Resozialisierung im interdisziplinär angelegten Arbeitsfeld erfolgreich umsetzen zu können, sind Bildung und Weiterbildung erforderlich. «Ohne sie schafft man im Justizvollzug und in der Sozialarbeit keine neuen Qualitäten», ist Hans-Jürg Patzen überzeugt. Zudem müssen sich Dienste und Einrichtungen der Justiz den veränderten methodischen Konzeptionen und Anforderungen gegenüber öffnen und dafür sorgen, dass der Wissenstransfer zwischen Forschung, Lehre und Praxis einfacher werde: im Interesse der Kriminal- und Deliktprävention und schliesslich im Interesse eines wirksamen Opferschutzes. Es ist Hans-Jürg Patzen wichtig zu betonen, dass individualisierte Rückfallprävention und Risikoorientierung keine Dualität darstellen, sich nicht gegenseitig ausschliessen, sondern notwendigerweise ergänzen.

Seit mehr als zwanzig Jahren herrschen in der Bevölkerung eine ausgeprägte Kriminalitätsfurcht und die Erwartung, dass Kriminalität mit drakonischen Strafen bekämpft werde. Politische Vorstösse und Volksabstimmungen spiegeln diese Angst, und die etablierte Politik reagiere darauf wie auch auf Rückfälle mit Vorstössen zur weiteren Einengung der im Strafgesetzbuch angelegten Resozialisierung. «In diesem Spannungsfeld muss sich der Justizvollzug zurechtfinden», erläutert Hans-Jürg Patzen und verweist auf die rechtlichen Grundlagen, auf die sich der Justizvollzug stützt beim Erbringen von Leistungen und beim Treffen von Entscheidungen, sowie auf Forschungsergebnisse, die zeigen, dass drakonische Strafvollzugssysteme nicht zum Ziel führen, ja die Rückfälligkeit begünstigen. «Es führt kein Weg an einer Differenzierung vorbei, die fachlich einwandfrei gestützt und geprüft ist», meint Hans-Jürg Patzen. Hier komme auch die Bildungsinvestition der ZHAW zum Tragen. «Fachliche Qualität ist letztlich immer Bildungsinvestition», ist Hans-Jürg Patzen überzeugt. Der Weg von der wissenschaftlichen Erkenntnis in die Praxis sei lang, in diesem Prozess seien die Hochschulen wichtig.

Soziale Arbeit ist immer auch Handwerk

Hans-Jürg Patzen ist es ein Anliegen, die Arbeit der BVD laufend den aktuellen Bedürfnissen und Entwicklungen anzupassen. Soziale Arbeit ist der einzelnen Person sowie Gruppen verpflichtet und muss stets auch helfen, die Sozialstruktur weiterzuentwickeln. Unverändert wichtig seien auch konkrete Hilfestellungen wie beispielsweise die Abteilung Schuldensanierung der BVD. Hans-Jürg Patzen bezeichnet die Sanierung der Finanzen als höchst wirksamen Beitrag für die soziale Integration und für das Erlangen der finanziellen Selbstständigkeit ohne Schulden. Im Kontext der Arbeitsintegration beispielsweise sei man sehr gut darin, die Situation zu verstehen, an konkreten Einstiegsmöglichkeiten fehle es aber zum Teil. Das RAV und weitere Institutionen leisten für viele Beratung und Vermittlung, doch gerade bei Menschen, die lange Zeit im Vollzug waren, sei der Anschluss an die Arbeitswelt unverändert schwierig. Es müssen weitere Investitionen geprüft werden. Deshalb erachtet Hans-Jürg Patzen die Gemeinwesenorientierung als zentral. Soziale Arbeit müsse das Gemeinwesen im Blick halten: Wo funktionieren Anschlusslösungen, wo sind die Schwellen zu hoch? Diese Schnittstellen und Barrieren gelte es zu bearbeiten und nicht einfach zu verwalten. Ihm sei die Soziale Arbeit manchmal zu wenig konturiert, gibt Hans-Jürg Patzen an: «Es muss jeweils klar sein, was bei der einzelnen Person angezeigt ist und worauf sie anspricht. Ausgehend vom Befund ist konsequent zu klären, wer was zu tun hat. Dann gilt es zu schauen, ob es in der geforderten Qualität ausgeführt wird und was es beim Klienten bewirkt.» Soziale Arbeit sei immer auch Handwerk, das auf einer soliden Fachkonzeption aufbaue, Netzwerke betreibe und die interdisziplinäre Zusammenarbeit begünstige.

Hans-Jürg Patzen ist Hauptabteilungsleiter Bewährungs- und Vollzugsdienste des Amts für Justizvollzug des Kantons Zürich.

Weiterbildungen am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention

Das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW Soziale Arbeit bietet verschiedene Weiterbildungen an: Kurse, Certificates of Advanced Studies CAS und einen Master of Advanced Studies MAS. Dank der engen Zusammenarbeit mit der Praxis werden neue Entwicklungen wahrgenommen und fliessen über Forschungserkenntnisse in den Lehrplan ein. Beim CAS Rückfallprävention und beim CAS Soziale Integration hat das Amt für Justizvollzug bei der Konzeption und Umsetzung mitgewirkt. Die beiden Weiterbildungen lassen sich zu einem MAS in Dissozialität, Delinquenz, Kriminalität und Integration ausbauen.

Weiterbildungen am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention