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WHO-Jahr der Pflegenden und Hebammen: «Die Politik muss mutiger sein»

Das WHO-Jahr der Pflegenden und Hebammen sei eine ausgezeichnete Gelegenheit, um das öffentliche Bewusstsein für die Berufe zu fördern, sagen Beatrice Friedli und Katharina Fierz. Die Leiterinnen der Institute für Hebammen und Pflege am ZHAW-Departement Gesundheit hoffen, dass die WHO-Initiative in der Schweiz zu einer höheren Bereitschaft führt, mit neuen Versorgungsmodellen das Potenzial der beiden Berufe besser auszuschöpfen.

Beatrice Friedli, Leiterin des Instituts für Hebammen, (links) und Katharina Fierz, Leiterin des Instituts für Pflege, fordern von der Politik mehr Anerkennung und Unterstützung für die beiden Berufsgruppen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2020 zum Jahr der Hebammen und Pflegefachpersonen ausgerufen. In Erinnerung bleiben wird es als Jahr, in dem das Corona-Virus weltweit Gesundheitssysteme an den Rand des Kollapses gebracht hat. Was bedeutet die Pandemie für die WHO-Initiative?

Katharina Fierz: Die Pandemie zeigt mit aller Deutlichkeit auf, wie unverzichtbar Gesundheitsfachpersonen für die Gesellschaft sind. Das gilt nicht nur für die Pflegefachpersonen in den Spitälern, die im Kampf gegen das Virus zusammen mit der Ärzteschaft besonders im öffentlichen Fokus stehen. Sondern für sämtliche Fachpersonen im Gesundheitswesen, die ihre Patientinnen und Klienten unter diesen erschwerten Bedingungen versorgen. Wenn diese Krise also etwas Gutes hat, dann das: Sie zeigt die Notwendigkeit auf, Hebammen und Pflegefachpersonen Sorge zu tragen und ihnen mehr Anerkennung entgegenzubringen. Insofern verleiht sie den Forderungen des WHO-Jahrs Nachdruck, in die Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen für die Berufe zu investieren.

Beatrice Friedli: Ich teile Katharinas Ansicht. Die Krise offenbart aber nicht nur die Wichtigkeit, sondern schonungslos auch die Mängel unseres Gesundheitswesens: Die Gesundheitsberufe, welche die Grundversorgung aufrechterhalten, werden über das Erträgliche belastet, ausgebildete Fachkräfte fehlen. Wenn es nach der Krise um die Behebung dieser Mängel geht, hoffe ich, dass sich Politik und Gesellschaft nicht nur an die Spitäler und die Intensivpflege, sondern an die Arbeit sämtlicher Gesundheitsfachleute während dieser Pandemie erinnern werden. Etwa an die Fachleute in der ambulanten Betreuung, beispielsweise freipraktizierende Hebammen oder Spitexmitarbeitende, die in dieser Krise stark gefordert sind. Sie leisten sehr viel Mehrarbeit und setzen sich dem Risiko einer Ansteckung aus, weil sie nicht genügend Schutzkleidung und -masken erhalten.

«Meine Erwartung ist, dass das politische Bewusstsein für den Hebammenberuf steigt.»

 

Trotz oder gerade wegen der Corona-Krise: Welchen Effekt erwarten Sie von diesem Jahr in der Schweiz?

Friedli: Meine Erwartung ist, dass das politische Bewusstsein für den Hebammenberuf steigt und damit langfristig die Leistungen für Frauen und Familien verbessert werden. Das ist dringend nötig! Ein Beispiel: Die Gesundheitsstrategie 2030 des Bundes setzt in der frühen Kindheit an. Doch dass Gesundheitsförderung bereits vor und in der Schwangerschaft absolut zentral ist, und dass es dafür genügend Hebammen braucht, wird mit keinem Wort erwähnt. Das muss sich unbedingt ändern.

Fierz: Ich erhoffe mir vor allem eines: dass die Politik die Leistungen und das Potenzial der beiden Berufe anerkennt. Und dass sie endlich den Mut zeigt, um Neues auszuprobieren. Das Parlament sollte den Experimentierartikel annehmen, den der Bundesrat letztes Jahr verabschiedet hat. Mit diesem könnten gross angelegte Pilotprojekte durchgeführt werden, um aufzuzeigen, wie das Potenzial von Pflegenden, etwa als Advanced Practitioner Nurses (APN), voll ausgeschöpft werden kann.

Hebammen und Pflegefachpersonen treten sonst kaum gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Wieso nun dieser Schulterschluss?

Fierz: In der Praxis gibt es diesen schon lange: In zahlreichen Ländern ist eine Ausbildung als Pflegefachperson Voraussetzung für den Hebammenberuf – die Berufe sind deshalb vielerorts eng miteinander verknüpft.

Friedli: Die Berufe nehmen zudem eine Schlüsselrolle im Gesundheitswesen ein, sie machen weltweit rund 50 Prozent aller Gesundheitsfachleute aus. Ein gemeinsamer Auftritt verdeutlicht diesen Stellenwert und gibt den Anliegen mehr Gewicht. Dieser Schulterschluss ist auch in der Schweiz nicht neu: Pflegende und Hebammen setzen sich auf Verbandsebene schon lange für gemeinsame Themen ein.

Und in der Praxis, funktioniert da die Zusammenarbeit zwischen den beiden Berufen?

Friedli: Die Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Mütter- und Väterberaterinnen, die traditionell eine Pflegeausbildung haben, war manchmal konfliktgeladen. Die Zuständigkeiten in diesem Bereich überlappen sich. Die Beziehung hat sich aber massiv verbessert und geht in Richtung einer konstruktiven Zusammenarbeit. So unterrichten zum Beispiel in der Aus- und Weiterbildung von Hebammen vermehrt Mütter- und Väterberaterinnen oder Hebammenstudentinnen absolvieren auf einer Beratungsstelle ein Praktikum. Das sind kleine, aber wichtige Schritte, um das Konkurrenzdenken abzubauen und die Kommunikation zwischen den Berufen zu fördern.

«Es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn ein Teil der Ausbildung aller Gesundheitsberufe zusammengelegt würde.»

 

Sie leiten die Institute für Hebammen respektive für Pflege am ZHAW-Departement Gesundheit. Wie wird in der Lehre die interprofessionelle Zusammenarbeit gefördert?

Fierz: Im Masterstudium absolvieren Hebammen, Pflegende und Physiotherapeuten viele Module zu 100 Prozent gemeinsam, beispielsweise zu Statistik und Forschungsmethoden. Weitere Module legen einen gemeinsamen Grundstein, etwa zu Advanced Practice oder familienzentrierter Betreuung: Die Konzepte werden miteinander erlernt und danach auf den professionsspezifischen Kontext übertragen. Das macht Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar und trägt entscheidend zu einer besseren Zusammenarbeit bei.

Friedli: Ein gelungenes Beispiel für interprofessionelle Ausbildung ist auch die von der ZHAW mitentwickelte Zürcher Interprofessionelle Ausbildungsstation ZIPAS. Im Bachelor Hebamme sind wir zudem an einem Projekt beteiligt, bei dem die Studentinnen gemeinsam mit Medizinstudierenden der ETH geburtshilfliche Skills üben. Solche gemeinsamen Ausbildungsanteile mit Medizinerinnen und Medizinern müsste es deutlich mehr geben. Denn Hebammen und Pflegende stehen im ständigen Austausch mit der Ärzteschaft.

Fierz: Dem stimme ich zu. Es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn ein Teil der Ausbildung von Medizinerinnen und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen zusammengelegt würde. Etwa mit einem gemeinsamen ersten Jahr, in dem medizinische Grundlagen oder überfachliche Kompetenzen gelehrt werden.

Apropos Ausbildung: Dieses Jahr schliessen an der ZHAW die ersten Absolventinnen den Masterstudiengang Hebamme ab. Ist die Akademisierung die Antwort auf die drängenden Fragen im Gesundheitswesen?

Friedli: Sie ist eine von mehreren Antworten. In der Geburtshilfe braucht es neue Versorgungsmodelle, etwa für Frauen mit psychischen Problemen oder mit Migrationshintergrund. Für die Entwicklung solcher Modelle braucht es Personen mit einer höheren akademischen Ausbildung. Ein Masterabschluss vermittelt eine ganzheitliche Perspektive, eine systematische Herangehensweise und die Fähigkeiten, um Versorgungslücken zu schliessen.

Fierz: Die Akademisierung trägt zudem ganz klar dazu bei, die Leute im Beruf zu halten, weil sie eine Karriere eröffnet. In der Pflege war eine solche lange nur ausserhalb der Praxis möglich, etwa in der Lehre oder im Management.

«Würde man Hebammen und Pflegenden mehr Verantwortung übertragen, könnten Fragmentierungen und Doppelspurigkeiten verringert werden.»

 

Eine Hauptforderung der WHO ist, das Potenzial von Pflegenden und Hebammen besser zu nutzen. Besteht hier auch in der Schweiz Nachholbedarf?

Fierz: Absolut. Die Diskrepanz ist riesig zwischen dem, was die Fachleute in der Praxis machen dürfen und für was sie eigentlich ausgebildet sind. Angesichts des Fachkräftemangels ist es absurd, dieses Potenzial nicht voll auszuschöpfen. Pflegeexpertinnen APN mit einem Masterabschluss beispielsweise haben die Kompetenzen für klinische Assessments, für das Management chronischer Erkrankungen oder für die Patientenedukation. Sie könnten die komplette Fallführung übernehmen. Doch das wird noch viel zu wenig genutzt.

Friedli: Das gilt auch für die Hebammen. Sie sind dazu ausgebildet, die Frauen bei einem unproblematischen Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett selbständig und selbstverantwortlich zu betreuen. Würde man Hebammen und Pflegenden mehr Verantwortung übertragen, könnten Fragmentierungen und Doppelspurigkeiten verringert werden. Und die Attraktivität der Berufe würde steigen: Wenn man die Kompetenzen leben kann, für die man ausgebildet ist, dann wird die Arbeit interessanter und die Fachpersonen bleiben länger im Beruf.

Was muss die Politik tun, damit das Potenzial besser genutzt werden kann?

Friedli: Die Berufsgruppen müssen stärker in die nationale Gesundheitspolitik einbezogen werden. Deshalb unterstütze ich die Forderung der WHO, dass in den Ländern auf höchster Verwaltungsebene Chief Nurses und Chief Midwifes installiert werden. Das braucht es auch in der Schweiz, damit die Berufe in Politik und Verwaltung vertreten sind und konsultiert werden, wenn es um die Gestaltung der künftigen Versorgung geht.

Fierz: Zentral sind auch bessere Arbeitsbedingungen: Mehr Möglichkeiten, um Familie und Beruf zu vereinbaren, und – nicht zuletzt – höhere Löhne.

Auch die Pflegeinitiative des SBK fordert bessere Arbeitsbedingungen. Der Krankenkassenverband Santésuisse warnt, dass die Initiative Kosten von fünf Milliarden verursachen könnte.

Fierz: Genau: Könnte. Es ist eine rein hypothetische Aussage, die ich verantwortungslos finde. Zudem zeugt sie von einer kurzfristigen Sichtweise, die potenzielle Einsparungen ignoriert. Besser bezahltes Pflegepersonal mit mehr Kompetenzen kostet zwar mehr, kann aber zum Beispiel unnötige Hospitalisationen verhindern.

Der Bundesrat lehnt die Initiative ab. Er verweist auf das Pflegeverhältnis in der Schweiz, das im internationalen Vergleich sehr gut ist. Klagen wir auf hohem Niveau?

Fierz: Die Pflegeverhältnisse können nur bedingt miteinander verglichen werden. Während in gewissen Ländern nur Pflegende mit einem Bachelorabschluss miteingerechnet werden, werden in der Schweiz auch die Fachkräfte Gesundheit und ausgebildete Diplomierte HF mitgezählt. Abgesehen davon: Nur weil andere Länder eine schlechtere Versorgung haben, müssen wir unsere Ansprüche nicht senken. Man darf den Anspruch haben, dass jeder Mensch Zugang zu einer angemessenen Grundversorgung hat. Und diese ist trotz des angeblich hohen Pflegeverhältnisses in vielen Bereichen nicht mehr gewährleistet.

«Die Scharnierfunktion der Ärzteschaft ist ein alter Zopf.»

 

Zur Diskussion steht neben der Initiative nun auch ein indirekter Gegenvorschlag. Reicht dieser aus, um die Herausforderungen zu meistern?

Fierz: Nein, es fehlen zentrale Massnahmen für einen längeren Verbleib im Beruf. Der Bundesrat sprach sich explizit gegen mehr Eigenverantwortung und die direkte Abrechnung mit den Krankenkassen aus. Sein Argument: Die Scharnierfunktion der Ärzteschaft würde infrage gestellt. Aber diese Funktion ist ein alter Zopf! Sie verhindert, dass Pflegende ihre Kompetenzen leben können, weil immer noch eine Stelle dazwischengeschaltet ist. Immerhin wurden dank Minderheitenanträgen einige Forderungen der Initiative wieder aufgenommen, etwa dass gewisse Pflegeleistungen direkt abgerechnet werden können.

Der SBK warnt vor einem Pflegenotstand in der Schweiz. Wie sieht es bei den Hebammen aus?

Friedli: Vor allem im ambulanten Bereich gibt es zu wenig Hebammen. Dort ist der Bedarf mit den früheren Wochenbettentlassungen deutlich gestiegen. Auch die zunehmende Komplexität der Fälle führt dazu, dass es mehr Hebammen braucht. Es ist deshalb erfreulich, dass der Kanton Zürich nun die Ausbildungsplätze an der ZHAW erhöht hat. Das allein reicht jedoch nicht. Wir sind darauf angewiesen, dass unsere Studentinnen auch bei freiberuflichen Hebammen ins Praktikum können. Bloss: Diese werden für die Ausbildungsbetreuung nicht entlöhnt, im Gegensatz zu den Spitälern. Da gibt es immer wieder Vorstösse, auch national. Doch es passiert seit Jahren nichts.

Der politische Widerstand gegen Verbesserungen muss frustrierend sein. Gibt es auch Lichtblicke?

Friedli: Es geht mir zwar etwas langsam, aber ja, es gibt vereinzelt Initiativen und Bemühungen. Beispielsweise die IG Nachhaltige Geburtshilfe, die von einer Zürcher Kantonsrätin ins Leben gerufen wurde und die sich unter anderem für eine Förderung der hebammengeleiteten Geburtshilfe einsetzt. Neue Chancen bietet auch das überarbeitete Gesundheitsberufegesetz, das klar legitimiert, wer was leisten kann, und stichhaltige Argumente für mehr Autonomie und Verantwortung und damit die Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe bietet.

Fierz: Auch in der Pflege gibt es Hoffnungsschimmer, vor allem auf kantonaler Ebene. So gab es im Kanton Glarus einen Vorstoss zum Hausärztemangel und zur medizinischen Versorgung von Kindern. Das hat dazu geführt, dass die Politik den Einsatz von APN im hausärztlichen respektive pädiatrischen Bereich prüft. Solche Lösungen müssten in der Schweiz flächendeckend vorangetrieben werden: Die nationale Politik müsste sich viel stärker engagieren und den Mut haben, neue Versorgungsmodelle auszuprobieren.

Zu den Personen

Beatrice Friedli leitet an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Institut für Hebammen, Katharina Fierz ist Leiterin des ZHAW-Instituts für Pflege.