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Gesundheit

«Wir müssen die psychische Versorgung rund um die Geburt umdenken»

Das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Forschungsprojekt «Shine» fokussiert auf die perinatale Depression, die in der Lebensphase von Schwangerschaft bis nach der Geburt auftreten kann. Jessica Pehlke-Milde und Antje Horsch schliessen in der Untersuchung erstmals die Partner und Co-Eltern ein.

Antje Horsch, Sie arbeiten in Lausanne, Jessica Pehlke-Milde arbeitet hier in Winterthur. Nun leiten Sie gemeinsam das Forschungsprojekt «Shine – Sensitive Healthcare for Inclusive Needs in Perinatal Depression». Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Antje Horsch: Uns verbindet eine langjährige Zusammenarbeit in der «Swiss Society for Early Childhood Research SSECR». Vor rund drei Jahren gründete ich diese Special Interest Group für perinatale Forschung, in der wir eng zusammenarbeiten und unsere verschiedenen disziplinären Perspektiven in der strategischen Ausrichtung der Gruppe zusammenführen.

Jessica Pehlke-Milde: Wir haben in dieser Gruppe entschieden, prioritär an der Entwicklung einer schweizweiten Leitlinie für perinatale Depression zu arbeiten. Sie ist die am häufigsten auftretende psychische Krankheit von Eltern in der perinatalen Zeit und kann sich negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Trotzdem gibt es bei uns weder eine standardisierte Versorgung noch klinische Richtlinien für eine interdisziplinäre Behandlung dieses Problems.

Welche Zeit umfasst die Bezeichnung «perinatal»?

Horsch: Allgemein bekannt ist die postpartale Depression, die nach der Geburt eintreten kann. Unser Projekt beschäftigt sich mit der perinatalen Lebensphase, die mit der Schwangerschaft beginnt und auch die Zeit nach der Geburt umfasst. Dieser Ansatz ist neu. Ebenfalls innovativ ist, dass wir die Partner oder auch Co-Eltern miteinbeziehen, also Menschen mit Kinderwunsch, die beschliessen, gemeinsam Eltern zu werden, aber nicht in einer sexuellen Paarbeziehung leben.

Wie erleben werdende Eltern den Übergang zum Elternsein?

Pehlke-Milde: Es ist ein sehr individuelles und zentrales Lebensereignis, das mit viel Freude und glücksbringender Erwartung verbunden ist. Man spricht ja auch davon, «guter Hoffnung zu sein». Ein Kind zu bekommen, verändert viel im Leben. Der Körper der gebärenden Person bereitet sich auf die Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen vor. Inzwischen wissen wir, dass auch die nicht schwangeren Partner einen Anstieg des Bindungshormons Oxytocin erfahren. Die Beziehung verändert sich – Paare werden zu Eltern. Und als solche spüren sie die Verantwortung, die sie für so ein kleines Menschenkind übernehmen. Das kann die Welt auf den Kopf stellen–manchmal im Sinne einer Krise.

Dass Frauen nach der Geburt in eine Depression abgleiten können, ist bekannt. Erstaunlich ist, dass 8 bis 10 Prozent der künftigen Väter depressiv werden. Warum hört man davon kaum etwas?

Horsch: Sowohl die Forschung als auch die Versorgung im Gesundheitssystem ist auf die gebärenden Mütter fokussiert. Die postpartale Depression wurde als Mutterproblem wahrgenommen. Auf der anderen Seite wird von Männern häufig erwartet, dass sie stark und unterstützend sein müssen – das gilt auch in unserer Kultur. Aufgrund dieses Stigmas suchen sie kaum Hilfe.

Pehlke-Milde: Während der Schwangerschaft und auch nach der Geburt gibt es viele Routineuntersuchungen. Mütter werden im Gesundheitssystem mehrmals gesehen, durch Gynäkolog:innen, Hebammen, Pflegefachpersonen, Kinderärzt:innen. Da ist die Chance viel grösser, dass Probleme identifiziert werden können. Das ist bei Vätern oder Co-Eltern nicht der Fall.

Horsch: Viele Väter suchen auch keine professionelle Hilfe, da ihre Symptome nicht unbedingt mit jenen einer klassischen Depression übereinstimmen, sondern sich eher in Reizbarkeit, Rückzug, Schlafproblemen oder erhöhter Aggressivität äussern.

Was sind die Risikofaktoren für eine perinatale Depression?

Horsch: Es gibt verschiedene psychosoziale und emotionale Faktoren. Dazu gehören etwa eine Vorgeschichte von Depressionen oder Angststörungen, aber auch ein hohes Stressniveau beispielsweise aufgrund finanzieller Belastung oder Schlafmangel, was häufig bei frischgebackenen Müttern und Vätern vorkommt. Ein weiterer Faktor ist der kulturelle oder gesellschaftliche Druck, eine «perfekte» Mutter zu sein, ohne das entsprechende soziale Unterstützungssystem zu haben.

Pehlke-Milde: Hinzu kommen noch biologische und medizinische Faktoren wie hormonelle Veränderungen oder eine als traumatisch erfahrene Geburt mit unerwarteten medizinischen Eingriffen oder der Erfahrung von Druck, medizinischen Behandlungen zuzustimmen.

Haben die Mütter erhöhte Erwartungen, weil die Geburt in Hollywood-Filmen als Höhepunkt im Leben einer Frau inszeniert wird? Rund ein Drittel der Mütter schätzen ihre Geburt im Nachhinein als traumatisch ein.

Pehlke-Milde: Die Geburt ist ein mächtiges Ereignis. Und die Erwartungen daran decken sich nicht immer mit den Erfahrungen, die Gebärende machen. Diese Diskrepanz kann als «Versagen» erlebt werden, da wir beim Gebären ein Stück weit die Kontrolle über das Geschehen verlieren. Eine qualitativ hochwertige geburtshilfliche Betreuung zielt daher nicht nur darauf ab, dass Mutter und Kind überleben. Sondern auch darauf, dass Gebärende und werdende Eltern mit ihrem Wohlbefinden, ihren Erwartungen und Erfahrungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Respektvolle Betreuung, die Wahrung der Autonomie in Bezug auf eine informierte Entscheidung und die Kontinuität in der Betreuung sind dabei Schlüsselkonzepte. Die hohe Rate an traumatischen Geburtserfahrungen und die teils sehr hohen Interventionsraten in der Schweiz sind problematisch. Wir können und müssen Geburtshilfe umdenken.

Horsch: Perinatale Depression betrifft alle Eltern – unabhängig von Geschlecht oder Familienform. Man weiss noch nicht sehr viel über die Bedürfnisse von nicht-gebärenden Elternteilen und nicht-traditionellen Konstellationen wie gleichgeschlechtliche Eltern, Patchwork-Familien und Alleinerziehende. Klar ist aber: Nicht-gebärende Eltern und nicht-traditionelle Familien erleben oft zusätzliche Belastungen, die in der medizinischen und psychologischen Versorgung kaum berücksichtigt werden. Es braucht mehr Aufklärung, gesellschaftliche Akzeptanz und angepasste Unterstützungsangebote, um wirklich alle Eltern in dieser herausfordernden Phase zu begleiten. Das ist das Kernanliegen unseres Projekts.

Nicht alle LGBTQ+-Menschen möchten besonders behandelt werden.

Pehlke-Milde: Sicher. Wir wissen aber, dass unser Versorgungssystem rund um die Geburt stark auf der Idee einer Norm beruht, die in Bezug auf diese Personengruppe nicht inklusiv ist. Versorgungsleistungen sind für Mütter gemacht, die sich als Frauen definieren. Alles andere wirkt zumindest irritierend – das würde ich jetzt mal behaupten, ist aber durch unsere Forschung zu überprüfen. Internationale Studien weisen auf vorhandene Barrieren beim Zugang zur medizinischen Versorgung von trans Personen hin. Empfehlungen sprechen sich dafür aus, zum Beispiel aktiv zu fragen, wie eine betreute Person angesprochen werden möchte. Ich erlebe aber immer wieder, dass Fachpersonen gehemmt sind, solche Themen anzusprechen. Während Studien zeigen, dass die werdenden Eltern es sehr schätzen, wenn sie von geschulten Fachpersonen aktiv angesprochen und individuell betreut werden.

Seit Februar erleben die USA einen ultrakonservativen Backlash, der sich gegen Diversity- und LGBTQ+-Projekte und -Programme richtet und bis zur Forschung durchschlägt. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Pehlke-Milde: Was in den USA abgeht, ist unglaublich. Meine Kolleg:innen, die im Bereich der reproduktiven und sexuellen Gesundheit arbeiten und forschen, berichten über schockierende Folgen einer menschenfeindlichen Politik, die sich insbesondere gegen benachteiligte Gruppen richtet. So habe ich beispielsweise erfahren, dass ein Forschungsprogramm gestrichen wurde, das Erkenntnisse zum besten Zeitpunkt für eine Grippeschutzimpfung für schwangere Personen gewinnen sollte und zum Ziel hatte, auch benachteiligte Eltern anzusprechen. Das massive Eingreifen in die Forschung wird fatale Folgen für die reproduktive Gesundheit und Rechte in der amerikanischen Gesellschaft haben. Gerade in den USA sehen wir deutlich, dass benachteiligte Gruppen eine höhere Müttersterblichkeit aufweisen.

Horsch: Suizid ist die häufigste Todesursache bei Müttern im ersten Jahr nach der Geburt – besonders zwischen sechs Wochen und zwölf Monaten nach der Geburt. Das besagt der Bericht «Saving Lives, Improving Mothers’ Care 2023». Wie diese Situation für andere Elternteile aussieht, weiss man nicht. Es besteht also dringender Handlungsbedarf.

Was bedeutet diese Entwicklung für Ihre Forschungstätigkeit?

Horsch: In Anbetracht dieser Entwicklung in den USA finden wir es umso wichtiger, dass unser Projekt jetzt durchgeführt wird. Und wir sind dankbar, dass der Schweizerische Nationalfonds ein ganzes nationales Forschungsprogramm (NRP) zu Gender in Medicine eingerichtet hat.