Die Kraft des Atems
Vanessa Leutenegger hat als erste Hebamme das Doktoratsprogramm «Care & Rehabilitation Sciences» erfolgreich abgeschlossen.
«Schnufe, schnufe, du muesch schnufe, einmal ine dann wieder use», singt Müslüm in seinem Hit «La Bambele». So einfach scheint es aber doch nicht zu sein. «Alle betonen, wie wichtig Atmung und Entspannung sind – doch nur wenige investieren tatsächlich Zeit, um gezielt Atemtechniken zu erlernen und sich darauf vorzubereiten», sagt Vanessa Leutenegger, Dozentin am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit und die erste Hebamme, die das Doktoratsprogramm «Care & Rehabilitation Sciences », das die ZHAW gemeinsam mit der Universität Zürich anbietet, absolviert hat. Im September hat sie ihre Doktorarbeit erfolgreich verteidigt.
Atem üben
Zum Thema ihrer Forschungsarbeit «Breathing and relaxation during antenatal education» kam Vanessa Leutenegger durch ihre Tätigkeit als Hebamme. «Atmung ist die Fähigkeit, die dich weiterbringt bei der Geburt», weiss sie. Wer sich auf die Atmung konzentrieren kann, sei in der Lage, seinen Körper und Geist zu entspannen. Die Voraussetzung dafür aber sei, dass das bewusste Atmen wie im Yoga oder in der Meditation regelmässig geübt werde, sonst lasse es sich während der Geburt nicht abrufen. «In Gesprächen nach Geburten habe ich gemerkt, dass viele Frauen enttäuscht sind, dass sie nicht in der Lage waren, sich auf die Atmung einzulassen, um den Schmerz zu lindern und die Entspannung zu fördern.»
Für ihre Doktorarbeit hat sie zunächst die wissenschaftliche Evidenz zu Atem und Entspannungstechniken ausgewertet. Danach sprach sie mit Fachleuten – darunter Frauen, die bereits geboren haben, Gynäkolog:innen, Hebammen sowie Atemtherapeutinnen und Yogalehrerinnen – um zu verstehen, wie verschiedene Atemtechniken gelernt werden können, wirken und welchen Einfluss sie auf das Geburtserlebnis haben. «Bei Stress und in Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit kommen andere Techniken zum Zug als bei einer Geburt», erklärt sie. «Psychische Probleme können zwar auch Schmerz auslösen, aber nicht wie ein Baby, das auf den Knochen drückt.»
Ein zentraler Faktor für ein positives Geburtserlebnis sei Selbstwirksamkeit. «Bei der Geburt oder eben in der Vorbereitung dazu, ist die Erkenntnis wichtig, dass Atmung etwas in einem bewirkt. Dieses Gefühl vermittelt Sicherheit», sagt Vanessa Leutenegger, die für ihre Doktorarbeit eine einfache, aber effektive Atemtechnik entwickelt hat. «Ein höheres Mass an Selbstwirksamkeit geht mit einem positiveren Geburtserlebnis einher.»
Doktorat in Teilzeitpensum
Ihre Erkenntnisse der letzten sechs Jahre hat sie in ihrer Dissertation zusammengefasst. «Ich habe den Ph.D. im Teilzeitpensum gemacht», erzählt Vanessa Leutenegger. Durch die Kooperation zwischen der ZHAW und der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich wurde ein Programm geschaffen, das Hebammen den Zugang zu einem medizinischen Doktorat in der Schweiz ermöglicht – und zugleich flexible Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Forschung und Familie bietet. Ihre Dissertation entstand in einer Lebensphase, in der sich beides parallel entwickelte: Drei Kinder begleiteten sie durch die Promotionszeit. «Die Flexibilität und Unterstützung im Programm sowie die ZHAW als Arbeitgeberin haben es möglich gemacht », sagt Vanessa Leutenegger. Ihr Weg zeigt, dass wissenschaftliche Karriere und Familienleben sich nicht ausschliessen müssen.
Der Doktortitel öffnet neue Türen. Durch welche sie treten wird, mag sie noch nicht sagen. Ein Thema, das sie aber beschäftigt, ist die Professionsentwicklung. «Forschung und Lehre sind beide spannende Felder», findet sie. Klar ist, dass sie ihrem Beruf treu bleibt: «Familien in der Zeit vor, während und nach der Geburt als Hebamme zu begleiten, kann nichts ersetzen.»