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Sterben am Lebensanfang: Eltern sind mit der schwierigsten Entscheidung alleingelassen

Werdende Eltern, die mit der Diagnose konfrontiert werden, dass ihr ungeborenes Kind nicht lebensfähig ist, werden zu wenig informiert und unterstützt. Zu diesem Resultat kommt eine ZHAW-Studie aus dem Nationalen Forschungsprogramm «Lebensende». Für diese Phase und eine fundierte Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch benötigen betroffene Eltern mehr Zeit sowie eine einfühlsame, unabhängige Beratung.

Die Diagnose, dass ihr ungeborenes Kind nicht lebensfähig ist, kommt für alle werdenden Eltern absolut überraschend und schockierend. Die meisten Frauen empfinden bis zu diesem Moment keine Anzeichen für eine Erkrankung des Kindes. Damit konfrontiert, stehen die Eltern einer enormen Herausforderung gegenüber. Geburt und Tod begegnen sich im Bauch der Mutter und die Eltern können einer der schwierigsten Entscheidungen nicht aus dem Weg gehen. Bis zum Entschluss, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden oder das Kind auszutragen, steht eine Reihe von komplexen und moralisch schwierigen Entscheidungen an. Diese können die Eltern in vielen Fällen nicht aus eigener Kraft fällen.

Versorgungslücken in der Begleitung

Welche Unterstützung und Beratung erhalten Eltern in dieser Phase? Welche wünschen sie sich? Die ins Nationale Forschungsprogramm NFP 67 eingebettete ZHAW-Studie «Sterben am Lebensbeginn» konstatiert während der Geburt und kurz nach dem Tod des Kindes eine engmaschige fachliche Unterstützung. Sie belegt aber auch, dass die Beratung und Betreuung nach der Diagnose bis zur Geburt – also in der wichtigen Zeit der Entscheidungsfindung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch – sowie in der Phase nach der Entscheidung bis zur Geburtsvorbereitung erhebliche Lücken aufweist. Information und Beratung fallen in diesen Phasen häufig eher knapp und der Situation unangemessen aus.

In den meisten Fällen fehlt laut der Studie eine feinfühlige Vermittlung der Diagnose. Zwar werden die Eltern über die verschiedenen Handlungsoptionen im weiteren Verlauf der Schwangerschaft aufgeklärt, aber auf Fragen wie «Hat das Baby Schmerzen?» oder «Ist es ein Risiko für mich als Mutter?» erhalten sie selten konkrete und individuelle Antworten. Für die Eltern besonders belastend ist, wenn über die Folgen der Diagnose scheinbar Ungewissheit herrscht oder wenn diese von den involvierten Fachleuten unterschiedlich eingeschätzt und kommuniziert werden.

Von der Diagnose zur Entscheidung

«Kommunikative Missverständnisse prägen diese herausfordernde Phase der Schwangerschaft», erklärt die ZHAW-Studienleiterin Valérie Fleming. «Betroffene Eltern haben zum Beispiel oft das Gefühl, die Zeit drängt. Die Ärzte jedoch sagen, dass der Entscheid für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu diesem Zeitpunkt nicht eile. Ein Satz wie ‹Jetzt habt ihr alle Zeit der Welt.› kann in dieser Situation entlasten.»

Die Tatsache, dass Aborte vereinzelt innerhalb von nur 24 Stunden nach der Diagnose eingeleitet werden, zeigt, dass in solchen Fällen oft überstürzt entschieden wird. Fälschlicherweise wird dabei nicht selten der Fötus als Fremdkörper oder als Bedrohung für die Gesundheit der Frau angesehen. Aus detaillierten Interviews mit 32 betroffenen Personen geht hervor, dass die meisten Entscheidungen in der kritischen Phase nach der Diagnose nicht informiert und fundiert gefällt werden.

Mehr Zeit und unabhängige Beratung

Unter dem Druck eine selbstbestimmte Entscheidung fällen zu müssen, wählen die Eltern einen für sie gangbaren Weg, der auf der einen Seite aus religiöser Überzeugung, teilweise aber auch von der Hoffnung einer falsch-positiven Diagnose genährt, beschritten wird.

Gleichzeitig stehen auf der anderen Seite Gefühle und Ängste von Überforderung bei der Vorstellung, Eltern eines schwerstbehinderten Kindes zu sein.

Die Studie empfiehlt darum, dass alle Eltern, deren ungeborenes Kind nicht lebensfähig ist, bis 48 Stunden nach der Diagnose die Möglichkeit bekommen, mit unabhängigen Beratern einer multidisziplinären Gruppe ein Gespräch zu führen. Ethiker, Genetiker, Mediziner, Juristen, Seelsorger, Hebammen und weitere Gesundheitsfachleute beraten und informieren sie dabei aus verschiedenen Blickwinkeln über die Optionen und nächsten Schritte in ihrem persönlichen Fall.

Verantwortung übernehmen

Entscheiden sich die Eltern für eine Fortsetzung der Schwangerschaft, wollen sie als «normale» Eltern wahrgenommen werden. Viele von ihnen gewinnen der «Wartezeit» Positives ab. So können sie die Diagnose besser verarbeiten, ihre Beziehung zum ungeborenen Kind weiterpflegen und sich auf den Abschied bei der Geburt vorbereiten. Auch das Aufrechterhalten der Normalität ist ein wichtiger Aspekt dieser Entscheidung. Bei der Geburt und dem unmittelbaren Tod ihres Kindes werden die Eltern von einem engmaschigen Netz der Fachpersonen respektvoll begleitet und gut unterstützt. Laut den Aussagen der Befragten reagiert hingegen das persönliche Umfeld oft unsicher.

Interprofessionelle Richtlinien

Die Resultate der Studie sollen dazu beitragen, die aktuellen Praktiken von Gynäkologen, Hebammen, Seelsorgern und anderen involvierten Fachpersonen wie Ethiker, Genetiker oder Juristen zu überprüfen und den spezifischen Bedürfnissen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sowie der Palliativpflege des Kindes anzupassen.

Die Studienverantwortlichen empfehlen, dass für Eltern, die sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden, ein Palliativ-Pflegeprogramm evaluiert werden soll. Weiter sollen nationale Guidelines für Medizin- und Gesundheitspersonal ausgearbeitet werden, damit eine möglichst lückenlose Betreuung in der gesamten Zeitspanne gewährleistet werden kann. Nicht zu Letzt könnte eine Längsschnittstudie Erkenntnisse liefern, wie Eltern, die eine Schwangerschaft abbrechen und Eltern, die eine Schwangerschaft weiterführen, den Tod ihres Kindes verarbeiten.

Downloads und weitere Informationen

Kontakt

Prof. Dr. Valerie Fleming, Studienleiterin «Sterben am Lebensbeginn», Professor of Midwifery, Telefon 058 934 64 64, E-Mail valerie.fleming@zhaw.ch

José Santos, Leiter Kommunikation ZHAW Departement Gesundheit, Telefon 058 934 63 84, E-Mail jose.santos@zhaw.ch