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School of Management and Law

«Die Zukunft als Tochter ihrer Zeit»

Ein Gespräch mit Zukunftsforscherin Isabelle Vuong über zukunftsorientierte Kunst- und Kulturinstitutionen - Dr. Laura Johanna Noll

Isabelle Vuong ist freischaffende Zukunftsforscherin, Vorstandsmitglied von Swissfuture, der schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung, und Gastreferentin im CAS Kulturmarketing und Kulturvermittlung der ZHAW. Dr. Laura Johanna Noll, Seniorwissenschaftlerin, Studienleiterin und Dozentin am ZHAW Zentrum für Kulturmanagement (ZKM) spricht mit ihr über die Rolle der Zukunftsforschung für das Kulturmanagement. Ein Gespräch über die Auseinandersetzung mit Wahrscheinlichkeit und Ungewissheit, und über die Zukunftsforschung als Quelle der Inspiration und Handlungsfähigkeit für Kulturinstitutionen. Besonders in Zeiten wesentlicher und schneller Veränderungen kann der systematische und strukturierte Ansatz der Zukunftsforschung dabei helfen, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren und besser vorbereitet zu sein. 

Laura: Liebe Isabelle, erzähl uns etwas über Deinen beruflichen Werdegang. 

Isabelle: Als Jugendliche wollte ich unbedingt im Kulturbereich arbeiten. Dafür studierte ich Filmwissenschaft, Kunstgeschichte, französische Literatur und Kulturmanagement. Direkt nach dem Studium konnte ich als Produktionsleiterin bei einer kleinen Theatergruppe in Lausanne einsteigen und war freischaffende Kulturjournalistin für bildende Künste sowie Presseattachée bei einem Genfer Filmfestival. Später bin ich zur Tanzproduktion und -diffusion gewechselt und wurde Leiterin des Schweizer Tanznetzwerk Reso in Zürich. Heute bin ich freischaffende Zukunftsforscherin. 

Laura: Wie hat Dein Weg von der Kultur in die Zukunftsforschung geführt?

Isabelle: Per Zufall. 2015 haben wir mit Reso, Danse Suisse und Pro Helvetia ein Forum für Tanz zum Thema „Zukunft des Tanzes in 2030“ organisiert. In diesem Kontext habe ich zum ersten Mal von Zukunftsforschung gehört. Ein Jahr später kam Brexit, dann Trump. Mir ist klar geworden, dass ich mich weiterentwickeln und für eine Zeit lang im Ausland leben möchte. So habe ich den Master in Zukunftsforschung an der Freien Universität in Berlin gefunden.

Laura: Welche Verbindung siehst Du zwischen Zukunftsforschung und Kulturmanagement?

Isabelle: Zukunftsforschung und Kulturmanagement teilen ein Interesse am Unbekannten. Beide machen es sich zur Aufgabe, Neues hervorzubringen. „Dancing with the unkown“, so beschreibt Riel Miller, ehemaliger Direktor von Foresight bei der UNESCO und Initiator von Futures Literacy (lab), die Auseinandersetzung mit der Zukunft - genauer gesagt: mit den Zukünften. Denn es gibt nicht nur eine Zukunft, sondern viele Zukunftsmöglichkeiten. 

Laura: Wie ist die Zukunftsforschung als wissenschaftliche Disziplin entstanden?

Isabelle: Die moderne Zukunftsforschung entstand Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge der Entwicklung der Statistik. Als man die demografische Entwicklung der Bevölkerung voraussehen konnte, konnte man auch den Bedarf an Infrastruktur, Schulen, Landwirtschaftlicher Produktion, usw. ableiten. Es ging um die Vorhersage der wahrscheinlichen Zukunft. So entstand die Disziplin Forecasting: mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie werden Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert. Mit dem Kalten Krieg erhielt dann die Tatsache, dass sich die Zukunft in verschiedene Richtungen entwickeln kann, eine existenzielle Dimension: Wird es einen Atomkrieg geben? Ausserdem wurde mit der Pluralisierung der Gesellschaft und der Gründung von etwa 150 Ländern nach dem 2. Weltkrieg deutlich, dass die wünschenswerte Zukunft für jede:n anders aussehen kann. So entstand die heutige Disziplin der Zukunftsforschung: Foresight.

Laura: Heute dreht sich die Zukunftsforschung also vor allem um die Erforschung mehrerer Zukunftsmöglichkeiten, anstelle der einen wahrscheinlichen Zukunft?

Isabelle: Genau. Foresight basiert auf der Erkenntnis, dass die Zukunft nicht mehr mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad vorhergesagt werden kann, sondern dass es mehrere Zukunftsmöglichkeiten gibt, sogenannte Szenarien. Die Szenarioplanung ist die bekannteste Methode der Zukunftsforschung. Im Gegensatz zum quantitativen Forecasting ist sie quantitativ und qualitativ. Es werden drei bis sechs verschiedene, in sich schlüssige Szenarien für die Zukunft entwickelt. Es geht also um plausible Zukünfte. Auch wenn Trends und Prognosen einbezogen werden, unterscheiden sich die erzeugten Szenarien durch die bestehende Ungewissheit. 

Laura: Und wofür nutzt man heute noch das Forecasting?

Isabelle: Forecasting ist nützlich für kurze Zeitreihen wie Wettervorhersagen und Trendforschung sowie für sehr lange Zeitreihen, die physikalischen Gesetzen folgen, z. B. Klimamodellierung. Man geht davon aus, dass sich alles so, wie es sich bisher entwickelt hat, auch in Zukunft entwickeln wird. Das nennt man deterministisch.

Laura: Das heisst, Forecasting befasst sich mit dem Wahrscheinlichen und Foresight mit der Ungewissheit. Welche Rolle können diese Methoden im Kulturmanagement spielen?

Die Zukunftsforschung macht uns bewusst, dass die Zukunft anders wird als die Vergangenheit. Was wird zum Beispiel aus der Kulturfinanzierung in einer Welt, die vor neuen ökologischen, (geo-)politischen und sozialen Herausforderungen steht? Wie verändert sich das Publikum, das künstlerische Schaffen und die Autor:innenschaft, z. B. wenn künstliche Intelligenz Texte, Bilder und Videos generiert? Werden wir einen Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigen Kunst- und Kulturszene erleben – und welche Implikationen hätte das?

Laura: Die Zukunftsforschung fördert unsere Auseinandersetzung mit den wichtigen Fragen unserer Zeit. Sie bildet eine Grundlage für zukunftsorientiertes Kulturmanagement?

Isabelle: Ja. In einer unsicheren Welt ist es wichtig, plausible Veränderungen zu antizipieren. Sobald man sich vorstellt, wie die Dinge anders sein könnten, werden diese potenziellen Zukünfte greifbarer und ermutigen zu Veränderung. Daher ist es hilfreich, sich verschiedene Szenarien für die Zukunft der Kultur vorzustellen, insbesondere solche, die Herausforderungen mit sich bringen könnten. Man gibt sich die Chance, diese zu antizipieren und zu bewältigen. Das Nachdenken über widrige Szenarien ist kein Ausdruck von Pessimismus, sondern im Gegenteil von Vorsorge!

Laura: Das heisst, Zukunftsforschung verhilft sogar zu Optimismus und Handlungsfähigkeit?

Isabelle: Sobald wir uns die Frage stellen, welchen Beitrag Kunst und Kultur in wechselhaften und manchmal herausfordernden Zeiten leisten, entdecken wir neue Wege in die Zukunft, an die wir sonst nicht gedacht hätten. So können wir eine Form der Ermächtigung gewinnen.

Laura: Wie können sich Kulturinstitutionen auf die Zukunft vorbereiten?

Isabelle: Der Kulturbereich kann sich auf die Zukunft vorbereiten, indem er neue Räume für Austausch und Vernetzung bietet, die Debatten und Herausforderungen unserer Zeit aufgreift, und sich breiter in der Gesellschaft verankert, also neue Zielgruppen anspricht. Eine breitere Verankerung bedeutet auch, dass sich die Kulturformen verändern. Sie werden partizipativer und entwickeln mehr Berührungspunkte mit der Wirtschaft und dem Sozialen. Was wäre, wenn Kulturinstitutionen und -förderer Residenzen mit sozialen Einrichtungen und Unternehmen fördern würden? Erste Beispiele existieren z. B. beim Hospice Général in Genf. Ausserdem könnten diversifiziertere Finanzierungsmodelle entwickelt und Kräfte, insbesondere beim Management, stärker gebündelt werden, z. B. nach dem Vorbild von Produktionsbüros.

Laura: Und welche Rolle könnten Kunstschaffende und Kultur:managerinnen spielen?

Isabelle: Meine persönliche Utopie wäre eine Art „Kulturdienst“ in Anlehnung an den Zivildienst: Unternehmen und soziale Einrichtungen definieren Leistungen, die sie suchen (z. B. ein Kunstwerk für die Sammlung einer Bank schaffen, neuartige Beiträge zum Wohlbefinden am Arbeitsplatz entwickeln, den Teambuilding-Event eines Unternehmens gestalten oder Workshops im Pflegeheim leiten) und öffnen der:dem ausgewählten Künstler:in ihre Türen, beispielsweise durch eine Residenz und durch Einbezug in interne strategische Überlegungen – das Ganze für ein ordentliches Gehalt, das zum grössten Teil vom Unternehmen (für die Leistungen) und zu einem kleineren Teil vom Kulturbereich (für die Residenz) bezahlt wird.

Laura: Welche Rolle spielt Zukunftsforschung in Deinem privaten Alltag und wie beeinflusst sie Dein persönliches Leben?

Isabelle: Mir hilft die Zukunftsforschung dabei, über die oft linearen oder katastrophalen Prognosen hinauszublicken. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir zwischen positiven und negativen Zeiten hin- und herwechseln, wie der deutsche Historiker Lucian Hölscher in seiner Publikation „Die Entdeckung der Zukunft“ (1999) aufzeigt.

Laura: Ich danke Dir für diese positive Zukunftsprognose. Und zuletzt: Welche Empfehlung hast Du für alle, die mehr über Zukunftsforschung erfahren möchten?

Isabelle: Die Publikation von Lucian Hölscher ist ein guter Ausgangspunkt. Sie zeigt, wie Zukunftsvorstellungen immer durch die jeweilige Gegenwart geprägt sind und somit als kulturelles Konstrukt verstanden werden können. Die Zukunft ist immer Tochter ihrer Zeit. Sie ist die Projektionsfläche für all unsere Träume und Ängste, und spricht somit von uns als Menschen und als Menschheit. „(Er)Kenne dich selbst“ war das Motto, das auf dem Frontgiebel des Tempels von Delphi stand, wo das Orakel im alten Griechenland seine Vorhersagen verkündete.

Laura: Liebe Isabelle, herzlichen Dank für den gemeinsamen Blick in die Zukunft!