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Gesundheit

Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin

Der Trend zur Selbstvermessung der eigenen Gesundheit mittels Sensoren und Apps nimmt zu. Unter der Leitung des ZHAW-Instituts für Ergotherapie untersucht die TA-Swiss-Studie Chancen und Risiken von Quantified Self.

Mit Fitnessarmbändern, mit eingebauten Sensoren in Kleidern oder mit einer Auswahl von über 100‘000 Gesundheits-Apps können wir unser Leben heute rund um die Uhr vermessen. Unabhängig vom benutzten Gerät handelt es sich bei der Selbstvermessung zu Gesundheitszwecken um einen ernstzunehmenden Trend. Immer mehr Menschen möchten ihre Körperfunktionen messen und selber analysieren. Die Messung, Übertragung und Auswertung von solchen Daten schlagen ein neues Kapitel zu Big Data im Bereich der Medizin auf.

Hintergrund der Studie

Die Nutzung von Geräten und Applikationen zur Selbstvermessung und Selbstoptimierung hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet. So ist der Gebrauch von Fitnessarmbändern und Gesundheits-Apps in der Schweizer Bevölkerung zunehmend beliebt. Die Selbstvermessung nennt sich auch «Quantified Self» und ist nicht nur eine Spielerei, sondern entspringt dem Drang nach Selbst- Optimierung. Das Ziel der Quantified-Self-Bewegung ist es, neue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen (Timmer, Kool & van Est, 2015). «Selfknowledge through numbers», wie Nafus und Sherman (2014) dies bezeichnen.

Wie jede neue Entwicklung ist auch der Quantified Self-Trend mit Hoffnungen, Erwartungen aber auch mit Befürchtungen und unvorhergesehenen und eventuell sogar ungewollten Effekten verbunden. Diesen wurde in dieser Studie nachgegangen.

Zielsetzung

Ziel der Studie ist es, den Stand und die zukünftige Entwicklung des Phänomens «Quantified Self» und deren Implikationen aus gesellschaftlicher, medizinischer, ökonomischer, technischer, rechtlicher und ethischer Perspektive für die Schweiz zu analysieren, Chancen und Risiken aufzuzeigen und Empfehlungen für Entscheidungsträger abzuleiten.

Studiendesign und Methoden

Das Projekt ist in vier Teilprojekte unterteilt:

  1. Ist- und Trend-Analyse
  2. Nutzerbefragungen
  3. Gesamtbeurteilung der Chancen und Risiken erarbeiten von Empfehlungen
  4. Dissemination der Resultate.

In Teilprojekt 1 wurden der aktuelle Stand und zukünftige Entwicklungen mittels Literatur- und Dokumenten-Analyse zu Quantified Self in den Bereichen Gesellschaft, Medizin, Wirtschaft, Technik, Recht und Ethik erhoben. Zusätzlich wurden 19 Experteninterviews zur Trendentwicklung geführt.

In Teilprojekt 2 wurden Nutzungsmotive und Auswirkungen der Verwendung von Quantified Self- Praktiken aus der Perspektive von Nutzerinnen und Nutzern sowie Gesundheitsfachpersonen mittels Fokusgruppeninterviews und in einer User-Group erhoben sowie ergänzend dazu eine Online- Befragung durchgeführt.

In Teilprojekt 3 wurde auf Basis der Ergebnisse in einem interdisziplinären Workshop eine Chancen- Risiken-Analyse durchgeführt. Daraus wurden akteursspezifische Handlungsempfehlungen abgeleitet.

Die Dissemination der Ergebnisse erfolgt in Teilprojekt 4 und wird laufend fortgesetzt.

Resultate

Es bestehen verschiedene Definitionen für Quantified Self. In dieser Studie wird wie folgt definiert: Quantified Self ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person sich aktiv mit Geräten und Applikationen misst, um aufgrund der Analyseresultate Wissen zu generieren, das dazu beiträgt, ihren Lebensstil und ihr Verhalten in den Bereichen Fitness, Wellness oder Gesundheit zu optimieren.

Quantified Self als Trendfortsetzung der Optimierung

Quantified Self ist kein neues Phänomen, sondern die Fortsetzung verschiedener, bereits länger währender Trends der Selbstvermessung, der Effizienzsteigerung, der Selbstoptimierung und des Selbstmanagements. Die Selbstvermessung fungiert dabei als Teil dieser Entwicklung, aber auch als Verstärker dieser Trends. Neben Motiven der Selbstoptimierung und der Gesundheitsförderung, sind es jedoch meist Neugier und das «mehr wissen wollen», welche Nutzerinnen und Nutzer dazu veranlassen, sich selbst zu vermessen. Erhobene und aufbereitete Daten dienen dabei als Grundlagen für Entscheidungen und Handlungen, als Ansporn sowie zur Dokumentation und zum Austausch mit Gleichgesinnten - seltener auch als Grundlage für eine Beratung mit einer Gesundheitsfachperson.

Dieser Trend wird sich in naher Zukunft weiter fortsetzen. Dies liegt an der hohen Verbreitung und der intensiveren Nutzung von Smartphones, dem zunehmenden Absatz von Smartwatches in der Schweiz und auch mit der Niederschwelligkeit der angebotenen Apps. Insbesondere Smartphones werden auch künftig als bevorzugtes Tool zur Selbstvermessung genutzt, weil darin verschiedene Sensoren zur Selbstvermessung bereits integriert sind.

Akteure im Quantified Self-Markt

Akteure aus dem Gesundheitsbereich wie Privatversicherer und Pharmaunternehmer, aber auch zahlreiche Start-ups sind in den Markt eingestiegen. Versicherungen haben ebenfalls das Geschäft mit den Daten entdeckt und loten das Potenzial aus. Mit den gesammelten Personendaten treiben die Hersteller zunehmend Handel, meist ohne die Nutzerinnen und Nutzer ausreichend zu informieren und ohne diese am Gewinn zu beteiligen.

Konsumprodukte dominieren den Markt

Die Quantified Self-Anwendungen und -Geräte sind hauptsächlich Konsumprodukte und gehören in den Lifestyle-Bereich. Es gibt derzeit erst wenige Produkte, die in den Medizinprodukten zuzuordnen sind.

Allgemein wird Quantified Self vor allem im Gesundheitsförderungs- und Präventionsbereich grosses Potenzial zugeschrieben. Berichte zeigen jedoch, dass ein Grossteil der heruntergeladenen Gesundheits-Apps nach kurzer Zeit nicht mehr verwendet werden. Ähnliche Berichte existieren über Fitnesstracker. Die langfristige Wirksamkeit von Quantified-Self-Anwendungen muss erst noch mit entsprechenden Studien nachgewiesen werden, damit diese auch langfristig erfolgreich und nachweislich gesundheitsfördernd eingesetzt werden können. Die Aufnahme des Trends in den medizinischen Bereich geschieht zögerlich. Dies hat vor allem mit der Produktevielfalt und der überwiegend unklaren Datenqualität zu tun. Von Fachpersonen verlangt es einen sehr hohen Aufwand, herauszufinden, welche Produkte zuverlässig und valide sind, welche Wirksamkeit zu erwarten ist und wie die Produkte nutzbringend in der medizinischen und therapeutischen Praxis eingesetzt werden können.

Filmclip zum ZHAW-Forschungsprojekt «Quantified Self»

Chancen für die Forschung

Für die Forschung werden durch den Einsatz von Quantified Self einige Chancen gesehen: Das Tragen von Wearables kann genutzt werden, um das Monitoring der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer einfacher und preiswerter zu machen. So können mit geringem Aufwand grosse Datenmengen gewonnen werden. Durch deren Analyse kann neues Wissen über das Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen generiert und neue Zusammenhänge gefunden werden, wodurch Krankheiten früher erkannt werden können.

Fehlender Datenschutz

Ein wesentliches Manko der Quantified Self-Produkte ist, dass kein ausreichender Datenschutz gewährleistet ist. Entwicklerinnen und Entwickler sind oft nicht mit den dafür nötigen Anforderungen vertraut. Die Hersteller von Quantified Self-Produkten im Lifestylebereich stammen grösstenteils aus den USA oder Asien, dadurch ist das Rechtsverhältnis mit den Kundinnen und Kunden grenzüberschreitender Natur. Weil die Selbstvermessenden ihre Gesundheitsdaten freiwillig zur Analyse ins Ausland senden, können ihre persönlichen Angaben dann in einem Land bearbeitet werden, welches keine dem Schweizer Recht adäquaten Datenschutznormen hat. Hinzu kommt, dass die Hersteller Kundendaten für eigene Zwecke nutzen oder an Dritte verkaufen, z.B. für personalisierte Werbung. Der Einsatz von Selbstvermessungstechnologien kann zudem von Arbeitgebern zur unerlaubten Überwachung der Arbeitnehmenden eingesetzt werden, von Eltern zur Überwachung ihrer Kinder oder von Versicherern zur Risikoeinschätzung ihrer Versicherten.

Forderung nach einem Qualitätslabel

Ein Qualitätslabel für Lifestyle-Produkte kann dazu beitragen, die Transparenz und Einhaltung von Datenschutz und -sicherheit zu erhöhen, eine gewisse Übersicht über Funktionen und Compliance-Management zu geben, sowie Qualitätsstandards bzgl. Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Daten und der Dateninterpretation durchzusetzen. Das Label ist notwendig, da diese Produkte, im Gegensatz zu Medizinprodukten, nicht speziell gesetzlich geregelt sind.

Mit einer Verbesserung der Defizite ist in Zukunft durch die Totalrevision des Datenschutzgesetzes und der Medizinprodukteverordnung zu rechnen. Die Schweizer Kundinnen und Kunden werden auch indirekt von der neuen EU-Datenschutzgrundverordnung profitieren: Ihre strengen Normen haben internationale Anbieter von Quantified Self-Produkten, die mit ihrem Angebot auf den europäischen Binnenmarkt zielen, einzuhalten, ansonsten drohen hohe Sanktionen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass besseres Produktewissen die Konsumentinnen und Konsumenten animiert, sich vermehrt für datenschutzfreundliche Produkte zu entscheiden.

Ein Grossteil der Produkte wird von Herstellern entwickelt und produziert, die ausschliesslich aus dem technischen Bereich stammen. Gesundheitsapps fehlt es deshalb oft an evidenzbasierten Inhalten, d.h. diese entsprechen nicht dem aktuellen medizinischen-therapeutischen Wissensstand. Es sollte daher vermehrt medizinisch-therapeutisches Fachwissen in die Entwicklung dieser Anwendungen einfliessen, damit das Potenzial für die Gesundheitsförderung und Prävention ausgeschöpft werden kann.

Drohende Diskriminierung und Entsolidarisierung bei Sozialversicherungen

Für die Gesellschaft sind vor allem mögliche Entwicklungen hin zu Diskriminierung, Entsolidarisierung und Zugangsungerechtigkeit zu beachten. Selbstvermessung kann den falschen Eindruck erwecken, dass jedes Individuum seinen Gesundheitszustand vollständig selbst bestimmen und kontrollieren könnte. Durch eine Verbreitung von Anreizsystemen in den privaten gesundheitsbezogenen Versicherungen kann dieser Eindruck noch verstärkt werden. Dies kann zu einer Verschiebung von Werten führen und infolge zur Diskriminierung von Menschen mit Krankheit und Behinderung sowie ein Infragestellen des Solidaritätsprinzips in unserer Gesellschaft. Damit verbunden ist auch die Frage der Zugangsgerechtigkeit von Produkten, die sich als wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich erwiesen haben. Diese sollten als Leistung in die Grundversicherung aufgenommen werden.

Literatur

  • Eckhardt, A.; Bachmann, A.; Marti, M.; Rütsche, B. & Telser, H. (2011). Human enhancement. vdf Hochschulverlag AG.
  • Nafus, D. & Sherman, J. (2014). This One Does Not Go Up to 11: The Quantified Self Movement as an Alternative Big Data Practice. International Journal of Communication, 8 1784–1794.
  • Timmer, J., Kool, L. & van Est, R. (2015). Coaches everywhere. In Kool, L., J., Timmer & R. van Est (Hrsg.). Sincere support. The rise of the e-coach. Den Haag: Rathenau Instituut.

Publikationen

  • Quantified Self: zwischen Selbst- und Fremdbestimmung.
    Prieur, Y. (2019). Tagungsband des 22. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2019, Hrsg. Erich Schweighöfer/Franz Kummer/Ahti Saarenpää, Weblaw-Verlag, S. 193 ff.
  • Die digitale Selbstvermessung in Lifestyle und Medizin. Eine Studie zur Technikfolgenabschätzung.
    Scheermesser M., Meidert. U., Evers-Wölk M., Prieur Y., Hegyi S., Becker H. (2018). TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, Nr. 27/3, S. 57-62
  • Ethische Normen und Werte in Zeiten von Quantified Self
    Widmer M., Hegyi S. (2018). Jusletter, 5.2.2018
  • Im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdvermessung.
  • Prieur, Y. (2017). Jusletter, 11.12.2017
  • Die Kehrseite der Selbstoptimierung.
    Prieur, Y. (2017). Jusletter, 27.11.2017
  • Quantified Self birgt viel Potential für die Forschung.
    Prieur, Y. (2017). Jusletter, 20.11.2017
  • Der Datenschutz spielt bei Quantified Self eine zentrale Rolle.
    Prieur, Y. (2017). Jusletter, 13.11.2017
  • Die Messdaten der Selbstvermesser im Fokus.
    Prieur Y. / Hegyi St. / Sprecher F. (2017). Jusletter, 13.11.2017

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Medienberichte

Projektkonsortium

Das interdisziplinäre Projektkonsortium setzt sich aus den Departementen Gesundheit, School of Management and Law und der School of Engineering der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie dem IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin zusammen.