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ZHAW-Studie erhebt erstmals Zahlen zum Sterbefasten in Schweizer Heimen

Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), auch als Sterbefasten bekannt, kann für schwerkranke Menschen eine Option sein, ihr Leben selbstbestimmt und vorzeitig zu beenden. Auch in der Schweiz rückt das Sterbefasten allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein. Die ZHAW-Forschungsstelle Pflegewissenschaft hat nun erstmals empirische Daten zur Verbreitung des FVNF in Schweizer Heimen erhoben.

Es ist eine kontrovers diskutierte und in der Schweiz noch kaum erforschte Art, aus dem Leben zu scheiden: der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Nun liegen erstmals Zahlen dazu vor, wie verbreitet das als Sterbefasten bekannte Phänomen in Schweizer Alters- und Pflegeheimen ist. So lassen sich 1,7 Prozent aller Todesfälle in den Heimen auf das Sterbefasten zurückführen, wie eine Erhebung im Rahmen des ZHAW-Forschungsprojekts «Voluntary Stopping of Eating and Drinking in Switzerland from Different Points of View» zeigt. An der Erhebung hat ein Drittel aller rund 1500 Heime in der Schweiz teilgenommen. In absoluten Zahlen entsprechen die 1,7 Prozent etwa 460 Personen, die in den Heimen jedes Jahr mit dem FVNF ihr Leben vorzeitig beenden. Allerdings dürfte die tatsächliche Anzahl Fälle um einiges höher liegen, wie Projektleiter André Fringer sagt. «Die befragten Leitungs- und Pflegefachpersonen gehen davon aus, dass nur etwa ein Viertel der Sterbefasten-Fälle von den Betroffenen tatsächlich angekündigt und als solcher deklariert wird», so der Co-Leiter der Forschungsstelle Pflegewissenschaft und des Masterstudiengangs Pflege am ZHAW-Departement Gesundheit. Bei den anderen Fällen würden Heimbewohner ohne grosses Aufsehen Nahrung und Flüssigkeit reduzieren und letztlich ganz darauf verzichten.

Gefahr der falschen Interpretation

Fringer warnt jedoch eindringlich davor, jeden Verzicht auf Nahrung oder Flüssigkeit am Lebensende als Sterbefasten zu interpretieren. Denn die Freiwilligkeit beim Sterbefasten sei mit der Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person verknüpft und dürfe nicht mit anderen Formen der Nahrungsverweigerung verwechselt werden. «Es besteht die Gefahr, dass die Appetitlosigkeit, die in der letzten Phase des Lebens häufig vorkommt, als Sterbewunsch interpretiert wird.» Insbesondere bei Menschen mit Demenz, die häufig Essen und Trinken verweigern, hat Fringer die Befürchtung, «dass rasch das Urteil gefällt wird: Diese Person will nicht mehr essen». Dabei könne es durchaus sein, dass eine dementiell erkrankte Person Essen und Trinken bei einer Pflegefachperson verweigere, bei einer Demenzexpertin aber problemlos zu sich nehme. «Bei Demenz ist die Nahrungsverweigerung deshalb sehr kritisch zu prüfen und klar zu regeln», so Fringer.
Grundsätzlich wirft Sterbefasten für den Projektleiter eine Reihe an ethisch schwierigen Fragestellungen auf – Gesundheitsfachpersonen, die bei ihrer Arbeit mit dem Thema zu tun hätten, müssten darauf sensibilisiert werden. «Sie müssen schon in der Ausbildung mit dem Sterbefasten konfrontiert werden und eine Haltung dazu entwickeln.»

Sterbefasten wird mehrheitlich positiv beurteilt

Dass es eine – auch gesellschaftlich und politisch – vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema braucht, zeigt die Befragung der Alters- und Pflegeheime deutlich. «Zwei Drittel der Heime, die an der Befragung teilgenommen haben, bezeichnen das Thema als äusserst relevant in der täglichen Arbeit», sagt Sabrina Stängle, Co-Autorin der Studie und Doktorandin. In gut jeder zweiten Institution kam es zudem bereits mindestens einmal zu einem Fall von Sterbefasten. Ein Grossteil der Umfrageteilnehmenden beurteilten den FVNF als positiv und als würdevolle und natürliche Art, aus dem Leben zu scheiden. Allerdings, so heisst es in der Studie, mangle es in den Institutionen häufig an Wissen und einer eindeutigen Haltung für den professionellen Umgang mit Sterbefasten. Die Heime müssten den FVNF deshalb offen diskutieren und klare Positionen entwickeln, so die Autoren.

Orientierungshilfe leistet dabei die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die das ZHAW-Forschungsprojekt finanziert. Die SAMW hat den FVNF kürzlich in ihre Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» aufgenommen. Diese haben in der Gesundheitsbranche eine grosse Wirkungskraft: So empfiehlt etwa der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) seinen Mitgliedern, die SAMW-Richtlinien zu achten und anzuwenden.

Daten und Haltung der Hausärzte und Spitex folgen

Im Frühsommer 2020 veröffentlichen André Fringer und Sabrina Stängle in weiteren Teilstudien Zahlen zur Verbreitung von Sterbefasten ausserhalb von Alters- und Pflegeheimen. Dazu stützen sie sich auf die Angaben von Hausärzten und Spitex-Organisationen. Auch die Haltung der Ärzte und der Spitex zum Sterbefasten und ihr Umgang damit werden in der Studie thematisiert.

Ankündigung

Prof. Dr. André Fringer hält am SAMW Symposium «Research in Palliative Care 2014–2018» vom 21. November 2019 in Bern ein Referat zum Sterbefasten unter dem Titel «Voluntary Stopping of Eating and Drinking (VSED) in Switzerland».