Wie steht es um die psychische Gesundheit der Schweiz?
Heute wurde der Nationale Gesundheitsbericht 2025 (NGB 2025) des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) veröffentlicht. ZHAW-Forschende aus den Departementen Gesundheit, Angewandte Psychologie, Soziale Arbeit und Management and Law waren am Bericht stark beteiligt. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag in den Kapiteln zur psychischen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, zu «Digitale Medien: Chancen und Gefahren für die psychische Gesundheit», zum sozialen Kontext sowie zu «Kosten und Finanzierung».

Zusammenfassend hält das Obsan fest: «2022 gaben über 90 Prozent der Bevölkerung an, eine gute Lebensqualität zu haben, 70 Prozent fühlen sich glücklich. Parallel dazu sind psychische Erkrankungen häufig: Jede zweite Person ist im Laufe ihres Lebens davon betroffen. Die psychische Belastung der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat zugenommen – dies wird auch international beobachtet. Diese negative Entwicklung zeichnete sich bereits Jahre vor der Covid-19-Pandemie ab.»
Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
Die departementsübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Frank Wieber, Departement Gesundheit, mit Agnes von Wyl und Katrin Braune-Krickau des Departements Angewandte Psychologie und Michael P. Hengartner der Fachhochschule Kalaidos fokussierte auf «Die psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen».
Im Gespräch zeigt Frank Wieber, Stellvertretender Leiter Forschung am Institut für Public Health, auf, wie es um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz steht und wie diese verbessert werden kann.
Auf welche Daten beruht der Gesundheitsbericht?
Frank Wieber: Der NGB stellt hohe Ansprüche an die Datenqualität. Nicht zuletzt deshalb haben wir uns vornehmlich auf die «Schweizer Schülerinnen- und Schülerbefragung zum Gesundheitsverhalten» («Health Behaviour in School-aged Children, hbsc.ch) und auf die Schweizerische Gesundheitsbefragung gestützt. Die HBSC wird unter der Schirmherrschaft der WHO alle vier Jahre international erhoben und erfasst die Altersgruppe der 11- bis 15-Jährigen. Die Schweizerische Gesundheitsbefragung wird alle fünf Jahre durchgeführt und berücksichtigt als jüngste Altersgruppe die 15- bis 24-Jährigen. Von der Altersgruppe der 6- bis 10-Jährigen gibt es in der Schweiz zur psychischen Gesundheit leider keine repräsentativen Daten.
Geht es den Schweizer Kindern und Jugendlichen schlechter als vor fünf Jahren?
Die psychischen Belastungen haben zugenommen, insbesondere bei Mädchen im Jugendalter und bei jungen Frauen.
Sind Mädchen fragiler als Jungs? Gibt es eine Erklärung für diese Zunahme?
Eine abschliessende Erklärung hierzu gibt es nicht. Diskutiert werden Stress- und Leistungsdruck sowie der Einfluss von digitalen Medien – hierzu gibt es im Gesundheitsbericht ein eigenes Kapitel. Ein weiterer Faktor ist das als Multikrise zusammengefasste Phänomen, das sich aus Elementen wie dem Wandel in der Weltordnung, Kriegen, Klimawandel und weiteren Unsicherheiten wie «Welcher Beruf ist im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz noch sicher?» zusammensetzt. All diese Krisenherde werden nonstop und in Echtzeit aufs Handy übertragen. Diese Multikrise löst bei vielen ein Gefühl des Kontrollverlusts aus. Einen prägenden Einfluss haben auch Rollenbilder. Diese führen gerade bei Mädchen dazu, dass diese sehr hohe Erwartungen an sich selbst stellen. Hinzu kommen gesellschaftlich diktierte Trends und die Anforderung, teils belastende Mehrfachrollen zu erfüllen, die durch berufliche Karriere, Familie, Kindererziehung, dem Anspruch, gut auszusehen, etc. geprägt sind. All diese Faktoren werden durch soziale Medien noch verstärkt.
Was macht Ihnen am meisten Sorgen?
Ich sehe keine Trendumkehr oder zumindest keine wesentliche Entspannung. Der Stellenwert der psychischen Gesundheit ist in den letzten Jahren zwar verstärkt ins Bewusstsein gerückt, aber es gibt keine einfachen Lösungen. Es werden zwar Massnahmen erarbeitet – so hat beispielsweise Australien ein Gesetz beschlossen, dass sich Jugendliche erst ab 16 Jahren bei sozialen Medien anmelden dürfen. Allerdings ist es bei solchen Massnahmen auch wichtig, die Rechte der Kinder und Jugendlichen auf digitale Teilhabe ernst zu nehmen. Unbestritten ist aber, dass die Betreiber von sozialen Medien das neuronale Belohnungssystem gezielt ansprechen. Diesen raffinierten Mechanismen im Kinds- und Jugendalter mit einem noch nicht vollständig entwickelten Gehirn zu widerstehen beziehungsweise einen adäquaten Umgang damit zu finden, dürfte die meisten überfordern.
Das klingt nicht sehr zuversichtlich.
Die Gesellschaft ist gefordert, Kinder und Jugendliche zu begleiten, und zwar auf vielfältige Art. Sport und Bewegung sind rückläufig, dabei bieten diese wichtige Schutzfaktoren. Grundsätzlich ist die durch digitale Medien gebotene Vernetzung positiv. Doch die selektive Verstärkung gewisser Themen durch die Algorithmen begünstigt das Abtauchen in ein sogenanntes Rabbit Hole, was selten positiv verläuft.
Wo sehen Sie Chancen?
Die psychische Gesundheit ist im öffentlichen Diskurs sichtbarer geworden. Diese Sensibilisierung ist positiv und trägt dazu bei, psychische Probleme mit höherer Wahrscheinlichkeit und früher zu entdecken. Weniger erfreulich sind die ADHS-Selbstdiagnosen. Solche Abklärungen sind aufwändig und sollten durch Fachpersonen erstellt werden.
Medial sind Themen wie ADHS, Autismus oder Neurodiversität sehr präsent – besonders in Zusammenhang mit Bildung.
Leider besteht hier – neben dem positiven Beitrag zur Sensibilisierung und Entstigmatisierung – die Gefahr einer medialen Überdosis wie damals bei Corona. Das Schlimmste wäre, dass die Leute sagen: «Ich mag es nicht mehr hören!». Und dass, obwohl der Handlungsbedarf nach wie vor hoch ist, die Kosten und Leiden der psychischen Gesundheit noch immer nicht den Stellenwert haben, den sie haben müssten. «Brain Health» gilt als die Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Die Gesundheit des Gehirns müssen wir besser verstehen, um es länger gesund zu halten und Erkrankungen zu reduzieren. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit trägt hier bereits zu einer Verbesserung bei. Beispielsweise bewegen sich die Psychiatrie und Neurologie aufeinander zu. Wir müssen alle zusammenlegen, um voranzukommen.
Das klingt anspruchsvoll.
Es kann auch im Kleinen geholfen werden. So liesse sich das Kontroll-Erleben und der Stress an Schulen einfach beeinflussen: Statt traditionsgemäss das Gros der Prüfungen auf das Jahresende zu legen, was viele überfordert und unnötig stresst, könnten Prüfungen übers Jahr verteilt werden. Das setzen übrigens viele Schulen auch schon so um.
Neun von zehn 16- bis 25-Jährigen geben an, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Gleichzeitig hat ein Drittel der männlichen und gut die Hälfte der weiblichen 16- bis 25-Jährigen das Gefühl, kaum einen Einfluss auf den Lauf der Dinge zu haben und mit der Energie und Vitalität steht es auch nicht zum besten.
Den jungen Erwachsenen ist oftmals bewusst, dass es ihnen auf der Ebene der physischen Gesundheit gut geht. Viele von ihnen leiden aber gleichzeitig unter psychoaffektiven Symptomen wie Müdigkeit, Schlafschwierigkeiten, Traurigkeit oder Ängsten. Die jungen Frauen sind in Sachen Vitalität und Energie unter dem Niveau der über 75-Jährigen! Die Behauptung, die nächste Generation habe es besser, bewahrheitet sich hier nicht.
Weniger klar ist, wie Männer reagieren. Fressen sie die Probleme in sich rein? Werden sie aggressiv? Welchen Einfluss hat das klassische Rollenverständnis, dass Männer keine Schwäche zeigen? Das ist noch nicht eindeutig geklärt.
Wo besteht Handlungsbedarf und welchen Erkenntnissen muss weiter auf den Grund gegangen werden?
Die Förderung der psychischen Gesundheit muss gestärkt werden. Dazu gehört eine weitere Sensibilisierung der Bevölkerung und die Verbesserung der Früherkennung. Denn vielfach heisst es immer noch: «Das wächst sich aus.» – Nein, das tut es in vielen Fällen nicht. Wichtig ist auch die Verbesserung der Versorgung. Bei dieser stecken wir in einer Krise. Wer heute eine Therapie braucht, muss bis zu einem Jahr auf einen Termin warten. Die Ausbildung muss entsprechend ausgebaut und neue Modelle, wie die interprofessionelle Zusammenarbeit oder Gruppenangebote, müssen gefördert werden, um Synergien zu nutzen und die Kosten im Griff zu behalten. Weiter braucht es mehr Daten, um belastbare Aussagen über die psychische Gesundheit, insbesondere jüngerer Kinder, und aktuelle Entwicklungen treffen zu können. Schliesslich ist eine ganzheitliche, bio-psycho-soziale Perspektive wichtig, bei der das systemische Zusammenspiel von Familie, Schule, Peers und anderen Einflüssen betrachtet wird. Ganz wichtig bei alldem: Die Partizipation der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie müssen unbedingt miteinbezogen werden, denn um sie geht es.
Nationaler Gesundheitsbericht 2025: https://www.gesundheitsbericht2025.ch

Prof. Dr. Frank Wieber
Stv. Leiter Forschung am Institut für Public Health
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