Das Unsichtbare sehen
Hebammen können dazu beitragen, Menschenhandel zu erkennen und zu bekämpfen. «Sie sollten stärker dafür sensibilisiert und geschult werden», sagen Angèle Lavignac und Sahar Ana Richter, die ihre preisgekrönte Bachelorarbeit dem Thema gewidmet haben.

von Eveline Rutz
Hebammen kommen jungen Eltern nahe. Sie begleiten sie während der Schwangerschaft, durch die Geburt, im Wochenbett und schliesslich beim Einleben als Familie. «Es entsteht ein intensiver und meist vertrauensvoller Kontakt», sagt Angèle Lavignac, die am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit studiert hat. Im engen Austausch können auch intime und heikle Themen besprochen werden. «Gerade, wenn man mit der schwangeren Person einmal allein ist», sagt sie.
Hebammen sind dafür ausgebildet, Frauen in ihren vulnerabelsten Momenten zu unterstützen. Sie zählen zudem zu den wenigen Berufsgruppen, die mit Klient:innen aller Gesellschaftsschichten, aus unterschiedlichen Kulturen und Lebensrealitäten zu tun haben. Dabei können sie auch auf Personen treffen, die von Menschenhandel betroffen sind. In der Geburtshilfe bestehe die Chance «die Ausbeutung zu erkennen», sagt Sara Ana Richter, die zusammen mit Lavignac die Bachelorarbeit «Die Unsichtbaren sehen – Menschenhandel im geburtshilflichen Kontext: Erkennen und Handeln bei betroffenen Personen» dazu geschrieben hat.
Gemäss «Platforme Traite», der Schweizer Plattform gegen Menschenhandel, sind 2023 in der Schweiz 197 neue Fälle von Menschenhandel registriert worden; in mehr als Dreivierteln waren die Geschädigten weiblich. Spezialisierte Organisationen betreuten 2023 fast 500 Betroffene und gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Auf Aussenstehende angewiesen
Die Leidtragenden leben häufig in rechtlicher Unsicherheit und werden von der Aussenwelt abgeschottet. Sie sind Drohungen sowie körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt. Sich zu wehren und Hilfe zu holen, fällt ihnen daher schwer. Sie sind auf Drittpersonen angewiesen, die auf ihre Situation aufmerksam werden. Fachleute sprechen denn auch von einem «Holdelikt». Dem Gesundheitswesen komme dabei eine zentrale Rolle zu, da es von Betroffenen – anders als andere öffentliche Dienstleistungen – zumindest in Notfällen genutzt werde. So bestehe die Möglichkeit, die Gesundheit und Sicherheit der Leidtragenden zu fördern.
Dies gelte insbesondere für die Geburtshilfe, sagt Sara Ana Richter. «Viele der Betroffenen sind weiblich und im gebärfähigen Alter». Hebammen seien in einer Schlüsselposition, um Leid wahrzunehmen und zu bekämpfen. Dafür müssten sie allerdings entsprechend sensibilisiert und geschult werden. Und sie müssten sich auf evidenzbasierte Screening-Tools sowie Handlungsempfehlungen abstützen können.
In ihrer Bachelorarbeit listen die Autorinnen auf, was auf missbräuchliche Umstände hinweisen kann. Betroffene werden häufig von auffälligen Personen begleitet, die für sie sprechen und administrative Belange übernehmen. Die möglichen OpferD haben begrenzte Sprachkenntnisse, sind nicht krankenversichert und kennen ihre Wohnadresse nicht. Sie nehmen eher spät medizinische Hilfe in Anspruch und verhalten sich dem Personal gegenüber zuweilen ängstlich oder ablehnend. Sie leiden oft unter psychischen Belastungen, nicht unfallbedingten Verletzungen sowie gynäkologischen Beschwerden. Ungewollte Schwangerschaften, Fehlgeburten, Frühgeburten und ein tiefes Geburtsgewicht können ebenfalls Indikatoren sein.
Eigene Vorurteile reflektieren
«Menschenhandel hat verschiedene Gesichter», sagt Sahar Ana Richter. Ausbeutung komme auch in subtilen Formen sowie in Milieus vor, die auf den ersten Blick den gesellschaftlichen Normen entsprächen. Betroffene seien nicht ausschliesslich im Sexgewerbe, sondern ebenso auf Baustellen oder in Haushalten zu finden. «Es braucht ein geschultes Auge, um sie zu erkennen.» Sie selbst habe anfangs ein «einseitiges Bild» gehabt, erzählt die junge Hebamme. Umso wichtiger sei es, evidenzbasiert und strukturiert vorzugehen.
Die Bachelorabsolventinnen empfehlen, Anamnesegespräche für standardmässige Screenings nutzen. Hebammen sollten beispielsweise immer nach häuslicher Gewalt fragen und je nachdem weitere Abklärungen ins Auge fassen. In Spitälern und in Arztpraxen sei es möglich, Ausbeutung niederschwellig zu thematisieren. Broschüren können in Räumlichkeiten, die Frauen vorbehalten sind, über Hilfsangebote informieren.
«Bei einem Verdacht gilt es, sensibel und gezielt nachzufragen», sagt Angèle Lavignac. Um eine Klientin nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen, sollte sie dafür von Begleitpersonen getrennt werden. Hebammen können Betroffene emotional stärken, über ihre Rechte aufzuklären und auf Wunsch an Fachstellen oder die Polizei weitervermitteln. Sie sollten ihre Beobachtungen dokumentieren, einen Verdacht im Team besprechen und interdisziplinär vorgehen.
Ein Thema aus der Praxis
Dass ihr Berufsstand mit Menschenhandel konfrontiert sein kann, haben Angèle Lavignac und Sahar Ana Richter realisiert, als sie am Ambulatorium Geburtshilfe des Stadtspitals Zürich Triemli für ihre Abschlussarbeit recherchierten. Sie erfuhren, dass Hebammen immer wieder Menschen begleiten, die ausgebeutet werden. «Dessen war ich mir nicht bewusst», sagt Lavignac. Das Personal habe im Alltag gelernt, auf Hinweise zu achten. Noch könne es dabei aber nicht auf einheitliche Fragebögen oder Leitfäden zurückgreifen. «Das hat uns angespornt».
Die ZHAW-Absolventinnen sind für die beste Bachelorarbeit des Jahrgangs ausgezeichnet worden. Sie haben den zweiten Platz des «Sustainable Development Goal Awards» erreicht und ihre Ergebnisse in zwei Fachartikeln geteilt. Wissen sei zentral, um wirksam gegen Ausbeutung vorzugehen, sagen sie. Die Politik tue gut daran, Ressourcen für eine breitere Sensibilisierung zur Verfügung zu stellen. Das Erkennen von Menschenhandel dürfe jedoch nicht als zusätzliche Berufskompetenz verstanden werden. Angesichts des aktuellen Zeit- und Personalmangels sollten Hebammen nicht noch mehr belastet werden. «Es ist nicht unsere primäre Aufgabe», sagt Richter, «wir Hebammen haben aber die Chance, für die Betroffenen etwas zu ändern.»