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Fremdplatzierung: Junge Menschen wollen ihr Leben im Heim mitgestalten

Im Projekt «Wie wir das sehen» befasst sich die ZHAW Soziale Arbeit mit der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen. Am 18. März findet ein Webinar zum Austausch von Fachwissen und Praxiserfahrungen statt.

Bei der Anschaffung neuer Spiel- und Freizeitgeräte mitsreden zu können, ist eines der Anliegen von Kindern und Jugendlichen im Projekt «Wie wir das sehen». (Bild: Unsplash)

Von Julia Rohrbach, Stefan Eberitzsch und Samuel Keller

Cevihaus Olten im Herbst 2019. Durch die geöffnete Terrassentür dringt die für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Luft in den grossen Saal. Dort haben sich rund 20 junge Menschen versammelt. Sie stammen aus drei verschiedenen Schweizer Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Heute haben sie sich zu einer Jugendkonferenz eingefunden. Sie sind gekommen, um Erfahrungen auszutauschen, wie sich junge Menschen in ihrer Situation an der Gestaltung des Lebens im Heim beteiligen wollen.

Alle haben etwas vorbereitet. Da sind zum Beispiel Kim, Sasha und Elia. Im richtigen Leben heissen sie anders, und um ihre Privatsphäre zu schützen, sind auch Alter und Geschlecht hier pseudonymisiert. Die drei gehen als erste nach vorne neben ihre Flipchart. Sie stellen ihr Heim vor und erzählen, wie sie sich dort in den Alltagsstrukturen einzubringen gedenken.

Ihre anfängliche Nervosität ist schnell verflogen. «Wir wollen Spielsachen und Spielgeräte, die auch schon etwas ältere Kinder wie wir gut finden, zum Beispiel ein Trampolin», sagt die 12-jährige Kim selbstbewusst. «Es soll für alle was dabei sein.» Ausserdem wünschen sich die drei, dass Kinder und Jugendliche bei Neuanschaffungen von Spiel- und Freizeitgeräten durch die Sozialpädagoginnen und -pädagogen einbezogen werden.

Trampolin ohne Aufsicht

Die Jugendkonferenz ist Teil des Projekts «Wie wir das sehen – Die Sichtweisen fremdplatzierter Kinder als Ausgangspunkt für Qualitätsentwicklung». Dieses Projekt der ZHAW Soziale Arbeit wird durch die Stiftung Mercator Schweiz gefördert, Projektpartner ist Integras Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik. Mittels verschiedener Methoden wird untersucht, wie junge Menschen in Einrichtungen Beteiligung erfahren und was hieraus für die Weiterentwicklung der Heimerziehung gelernt werden kann.

Den Auftakt des Projekts machten Ideentreffs in den jeweiligen Einrichtungen, bei welchen die jungen Menschen Themenfelder erarbeiteten. Diese brachten sie zur Jugendkonferenz mit. In den Präsentationen und anschliessenden Workshop-Settings haben die Teilnehmenden schliesslich zwölf Lebensbereiche definiert, in denen es ihnen besonders wichtig ist, sich beteiligen zu können.

Bei ihrer Präsentation in Olten gehen Kim, Sasha und Elia ausser auf die Freizeitgestaltung auch auf andere Lebensbereiche ein, bei deren Ausgestaltung sie mehr mitbestimmen möchten. Dazu gehören die Privatsphäre, die Nutzung von Medien sowie Regeln, die zum Beispiel die Zimmerzeit betreffen. Die anderen Jugendlichen im Raum nicken: Diese Themen sind ihnen bekannt. «Die Trampolinregeln bei uns sind zu streng», stimmt der 12-jährige Mika den drei Jugendlichen vorne neben der Flipchart zu. «Ich möchte auch drauf gehen können, wenn keine Erwachsenen in der Nähe sind.»

Aktionsbox für die Nutzung im Heim

Die Arbeit der Jugendlichen ist ein zentraler Bestandteil des Projektes «Wie wir das sehen». Ihre Sichtweisen und Anliegen wurden in den vorangehenden Monaten nicht nur an Veranstaltungen und in Gruppeninterviews abgeholt. Sie flossen auch massgeblich in ein Produkt ein, das im Heimkontext auf die Anliegen fremdplatzierter junger Menschen aufmerksam und diese diskutierbar machen soll. So entwickelte eine Begleitgruppe, bestehend aus Jugendlichen zusammen mit dem Projektteam, zwischen Januar und Sommer 2020 eine Aktionsbox mit Poster, Stickern, Karten zum Selberbeschriften und einer Fachbroschüre, die Einrichtungen für fremdplatzierte junge Menschen bei Integras beziehen und für partizipative Prozesse nutzen können. Grundlage zur Entwicklung der Box bilden die zwölf definierten Lebensbereiche. Von diesen ausgehend, haben die Jugendlichen Produktideen gesammelt.
 
Das Projektteam der ZHAW, bestehend aus Stefan Eberitzsch, Samuel Keller und Julia Rohrbach vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie mit der Unterstützung des soziokulturellen Animators Robin Schobel, schlug zudem einen Wandkalender vor. Diese Idee fiel bei den jungen Menschen jedoch umgehend durch. Die zwölf Themen müssen alle auf einen Blick sichtbar sein, waren sie sich einig. Zu warten, bis im nächsten oder übernächsten Monat erst derjenige Lebensbereich besprochen werde, der für manche eine besondere Relevanz haben könne, entspreche nicht den Vorstellungen der jungen Menschen.

Beteiligung als Leitmaxime

Da sie keine kahlen Wände mögen, von denen es einige gibt in ihren Einrichtungen, stimmt die Gruppe schliesslich für ein Plakat ab. Dieses soll mit Stickern ergänzt werden – das spreche junge Menschen besonders an, sind die Jugendlichen überzeugt. Auf Tablets und Papier entwarfen sie grafische Ideen zu den einzelnen Lebensbereichen. Ebenso wurden Aussagen zu diesen gesammelt und im Produkt übernommen. Das Projektteam hat zusätzliche die Themen der jungen Menschen in den Fachdiskurs eingebettet.

Beteiligung ist eine Leitmaxime der verstehenden Sozialen Arbeit, die von den Bedarfen junger Menschen ausgeht. Sie wird in der Praxis wie auch durch entsprechende Studien bestätigt: Der Fokus auf Beteiligung führt mehrheitlich zu einer besseren Passung und einer erhöhten Akzeptanz der Fremdplatzierungsangebote. Zudem kann Partizipation die Entwicklungsschritte und das Wohlergehen der Betroffenen entscheidend unterstützen. Die jungen Menschen, die am Projekt «Wie wir das sehen» beteiligt waren, bestätigten dies wiederholt.

Jugendliche ernst nehmen

Was aber heisst Partizipation im Heimkontext? Wo liegen ihre Grenzen? Mitbestimmung ist nicht mit kompletter Selbstbestimmung zu verwechseln. Bei der Beteiligung geht es vielmehr darum, die jungen Menschen in Entscheidungsfindungen, die für sie wichtige Lebensbereiche tangieren, angemessen und mit dem Älterwerden zunehmend einzubinden.

Auch in einer Gruppendiskussion des Projekts wurde dies deutlich. Es geht den Jugendlichen nicht darum, alles unabhängig der Erwachsenen entscheiden zu können und die volle Verantwortung tragen zu müssen, sondern mit ihren Anliegen ernst genommen und verstanden zu werden. Sie kennen und verstehen durchaus Abstufungen der Beteiligung. Auch über alltägliche oder verbotene Themen wie Rauchen und Alkohol zu sprechen, in einen Diskurs gehen und zu erfahren, was hinter den Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten junger Menschen liegt, gehört zu ihrer Teilhabe.

Webinar zu Fremdplatzierung und Partizipation am 18. März 2021

Wollen Sie mehr über Beteiligung junger Menschen im Heimkontext erfahren? Dann nehmen Sie am 18. März 2021 am Webinar «Beteiligung: ‹Wie wir das sehen!› – Die Sichtweise junger Menschen als fachliche Impulse verstehen» teil (weitere Informationen und Anmeldung via Integras-Website). Sie erhalten dabei vertiefte Einblicke ins gleichnamige ZHAW-Projekt und können sich mit dem Projektteam austauschen. Am Webinar werden wir der Frage nachgehen, welche fachlichen Impulse Fachpersonen und Einrichtungen aus den Sichtweisen der jungen Menschen für eine umfassende Partizipation im Heimkontext ableiten können und welche Chancen sich daraus bieten.

Die Veranstaltung findet in Kooperation mit Integras Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik statt.