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Generöse Sozialämter? Von wegen

In einer Veranstaltung gehen wir der Frage nach, warum in der wirtschaftlichen Sozialhilfe selten der Ermessenspielraum ganz genutzt wird. Zur Diskussion stehen fachliche, juristische und ethische Fragen.

Damit Mitarbeitende der Sozialhilfe Verantwortung übernehmen, braucht es ein Grundvertrauen in ihre Professionalität. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

von Michael Herzig und Gisela Meier  

Die Sozialhilfe ist das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit in der Schweiz. So steht es in jedem Lehrbuch. Da es allerdings kein Sozialhilferecht auf Bundesebene gibt und zudem die Gemeinden für die Ausrichtung der Sozialhilfe zuständig sind, sind die Maschen dieses Netzes von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde höchst unterschiedlich geknüpft.  

Von den maximal möglichen Mietzuschüssen über den Zugang zu unentgeltlicher Rechtsberatung zu den bürokratischen Auflagen für den Bezug wirtschaftlicher Sozialhilfe können sich die konkreten Regelungen massiv unterscheiden.  

Hinzu kommen unterschiedliche organisatorische Rahmenbedingungen. Das kann die Anzahl Fälle betreffen, die ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin mit einer Vollzeitstelle bewältigen muss, aber auch die Frage, welche Tätigkeiten zu Sozialberatung gezählt werden und welche rein administrativ abgewickelt werden.  

Politische Positionierung beeinflusst Praxis

Für die Sozialhilfe gelten zudem verschiedene handlungsleitende Prinzipien, die kontextabhängig interpretiert und ausgelegt werden. Ob es die Wahrung der Menschenwürde gemäss Bundesverfassung betrifft, die gesellschaftliche Integration, oder die Pflicht zur Eigenverantwortung und Gegenleistung: Der Auslegungsspielraum ist gross, und die Art der Auslegung ist immer auch eine – bewusste oder unbewusste – politische Positionierung. Ganz egal, ob sie vom Gemeinderat vorgenommen wird, von der Sozialbehörde, einer Abteilungsleiterin, einer fallführenden Sozialarbeiterin, einer administrativen Mitarbeiterin oder von einer Praktikantin.  

Weil Sozialhilfe zudem subsidiär, individuell, bedarfsabhängig und unabhängig von den Armutsursachen ausgerichtet werden soll, muss in jedem Einzelfall der effektive Anspruch auf Unterstützung abgeklärt und eingeschätzt werden. Das beginnt bereits bei der Anmeldung, einem sehr häufig rein administrativen Vorgang.  

Auch im weiteren Fallverlauf haben Sozialarbeitende Ermessens- und Entscheidungsspielräume – und eine damit einhergehende Verantwortung sowohl den armutsbetroffenen Menschen als auch dem die Unterstützung ausrichtenden Staat gegenüber. 

Anspruchsvolle Tätigkeit

Eine komplexe Ausgangslage, beträchtlicher Ermessenspielraum und eine doppelte Verantwortung. Das eröffnet zahlreiche Möglichkeiten für Konflikte und Dilemmata. Und es verleitet dazu, möglichst viele Arbeitsschritte zu regeln und zu standardisieren, damit die effektiven Entscheide nicht allzu sehr voneinander abweichen.  

Allerdings wissen wir aus der Organisationssoziologie, dass ein zu dichtes Regelwerk und restriktive Kontrollsysteme dazu führen, dass Mitarbeitende weniger Verantwortung übernehmen. Darum wird in der Sozialen Arbeit eine gemeinsam reflektierte Haltung als Alternative zu engen Qualitäts- und Risikomanagement-Normen postuliert. Fraglich ist zudem, ob standardisierte Prozesse berufsethische Überlegungen im Hinblick auf ein betroffenes Individuum zulassen.  

Dazu braucht es aber ein Grundvertrauen in die Fachlichkeit und die Professionalität der involvierten Mitarbeitenden. Und Wertschätzung für eine anspruchsvolle Tätigkeit. Dies jedoch ist in der hochpolitisierten und emotionalisierten Diskussion um den Sozialstaat häufig nicht gegeben. Umso wichtiger ist es, die Praxis in der wirtschaftlichen Sozialhilfe zu beleuchten und wohlwollend kritisch zu diskutieren. Nur so kommen Lernprozesse zustande.