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Streitgespräch: «Wir können nicht so weiterfahren wie bisher»

Die Autoverkäufe steigen und auch der öffentliche Verkehr nimmt zu. Wie ist dies zu bewältigen? Ein Gespräch zwischen dem ZHAW-Experten Thomas Sauter-Servaes und Andreas Burgener von Auto-Schweiz.

Andreas Burgener von Auto-Schweiz und ZHAW-Experte Thomas Sauter-Servaes sitzen am Tisch und führen ein hitziges Gespräch.
Andreas Burgener (l.) ist Direktor des Verbands Auto-Schweiz, der Dachorganisation der Schweizer Automobilimporteure. Thomas Sauter-Servaes (r.) ist Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der ZHAW School of Engineering.

ZHAW-Impact Nr. 36 vom März 2017

Eine Zunahme von 18 Prozent beim Autoverkehr bis 2040 – weist eine Studie des Bundes aus. Ist das nicht zu bescheiden?

Thomas Sauter-Servaes: In diesen  Verkehrsprognosen des Bundesamtes für Raumentwicklung vom letzten August werden selbstfahrende Fahrzeuge nur am Rande erwähnt. Und bei den Berechnungen sind sie gar nicht eingeflossen. Ich bin überzeugt, dass die selbstfahrenden Fahrzeuge eine enorme Verkehrssteigerung mit sich bringen werden. Denn wenn eine neue Technologie kommt, wird sie genutzt.
Andreas Burgener:
Wenn man das jährliche Verkehrswachstum von 1,7 bis 2 Prozent der letzten Jahre hochrechnet bei gleichzeitiger Bevölkerungszunahme und einem angestrebten Wirtschaftswachstum vergleichbar mit dem der letzten Jahre, dann haben wir bereits im Jahr 2030 30 Prozent mehr Verkehr als heute. Die Prognosen des Bundes sind unrealistisch tief. Bei 22 828 Staustunden pro Jahr allein auf den Autobahnen weiss niemand mehr, wann man am Ziel ankommt. Dieser volkswirtschaftliche Unsinn kann so nicht weitergehen. Heute dauert eine Fahrt von Bern nach Zürich im Durchschnitt länger als vor 10 Jahren.

Verkehr und Staus werden also massiv zunehmen. Lösungen sind nur punktuell in Sicht.

Sauter-Servaes: Wir müssen zwischen Verkehrsleistung oder Personenkilometern und dem Fahrzeugaufkommen unterscheiden. Wenn vier Personen gemeinsam in einem einzigen Auto sitzen statt in vier einzelnen Fahrzeugen, reduzieren wir den Infrastrukturbedarf um 75 Prozent. Wir müssen es in Zukunft schaffen, dass die Leute möglichst gemeinsam fahren.

Ist das nicht auch trotz Sharing Economy unrealistisch?

Burgener: Wir von Auto-Schweiz fordern seit Jahren Parkplätze bei den Autobahneinfahrten. Wenn dort die Parkplätze gratis sind, werden Autopools, besonders beim Arbeitsverkehr, möglich. Das würde das Verkehrswachstum aber höchstens für ein bis zwei Jahre stabilisieren.
Sauter-Servaes: Im Gegenteil, es liegt viel mehr drin. Für Lissabon hat man eine Simulationsrechnung mit gepoolten Taxifahrten mit selbstfahrenden Fahrzeugen erstellt. Also kein Individualverkehr mehr. Resultat: Der gesamte Fahrzeugbestand könnte auf drei bis zehn Prozent des heutigen Bestandes reduziert werden. Und Parkplätze bräuchte es praktisch keine mehr. Interessant ist auch eine Berechnung des MIT: In New York werden jährlich 150 Millionen Taxifahrten gekauft.
Wären die Kunden bereit, nur drei Minuten Umweg in Kauf zu nehmen, hätten 80 Prozent der Fahrten gepoolt werden können. Was heisst das? Gemeinsam Fahrzeuge zu benutzen, ist eine Frage der sozialen Akzeptanz. Viele Leute wollen aber leider alleine Taxi fahren.
Burgener: Nein, das Problem liegt woanders. Es ist bisher nicht möglich, sauber zu lösen, wer wie viel bezahlen muss, wenn gemeinsam gefahren wird und jeder an einem anderen Ort zu- oder aussteigt.

Herr Sauter-Servaes, ist das nicht utopisch anzunehmen, dass es in Lissabon in 20 Jahren keinen Individualverkehr mehr gibt?

Sauter-Servaes: Eben nicht. Weil wir glauben, selbstfahrende Autos kommen in 30 bis 50 Jahren, kommt es zu Fehlplanungen. Ich sage, diese Technologie kommt viel schneller. Überlegen Sie mal, wie exponentiell sich die Rechenleistung erhöht. Für selbstfahrende Autos sind die Rechenleistung und die Übertragungsraten entscheidend.

Herr Burgener, glauben Sie an den vollautomatisierten Verkehr?

Burgener: Ich bin eher skeptisch, vor allem weil der Mensch die emotionale Freiheit des Fahrens nicht aufgeben will. Man muss unterscheiden zwischen völlig autonomen Fahren und automatisiertem Fahren, wo die Technik ein Hilfsmittel darstellt. Technisch können wir die Fahrzeuge zumindest auf Autobahnen auf wenige Meter aufschliessen lassen und wir können die Durchschnittsgeschwindigkeit auf 150 km/h erhöhen. Das würde die Staus massiv abbauen. Doch es braucht zwingend mehrspurige Autobahnen.
Sauter-Servaes: Ihre Vorschläge bedeuten technisch betrachtet, dass wir den Raumwiderstand verringern. Damit würde man Verkehr induzieren, ja geradezu fördern.

Wie sieht die ideale Verkehrswelt in 30 Jahren aus?

Sauter-Servaes: Es bringt nichts, den Raumwiderstand zu senken, nur damit wir möglichst rasch mal 150 Kilometer weit zu einem Event oder zum riesigen Einkaufscenter auf der grünen Wiese fahren können. Gescheiter wäre es, den Bäcker vor Ort und den lokalen Laden zu berücksichtigen. Wir werden selbstfahrende Autos haben, ob 2025 oder später, ist vollkommen egal. Der Selbstlenker wird gesellschaftlich stigmatisiert werden, so wie es heute die Raucher sind. Zu gross sind die durch ihn induzierten Risiken für die Verkehrssicherheit.

Wieso soll es möglich werden, auch den hintersten Winkel ohne menschliche Hilfe zu meistern?

Sauter-Servaes: Nehmen Sie doch mal den Tesla: Die Sensoren und Kameras im Tesla melden heute schon jedes Detail per Mobilfunk an die Zentrale, ob das der Tesla-Fahrer will oder nicht. Big Data wird nach und nach das gesamte Strassennetz bis zur letzten Nuance optisch vermessen und verorten. Karten, Technologie und Datenmengen werden von Tag zu Tag besser.
Burgener: Die Frage ist, ob der Kunde das will. Mobilität hat eine grosse emotionale Komponente, genau wie beispielsweise die Armbanduhr. Die bräuchte es längst nicht mehr. Jedes Handy zeigt die Zeit an. In all den schönen Autos stecken jede Menge Emotionen. Deshalb werden die Menschen nicht auf ihr individuelles Auto verzichten.
Sauter-Servaes: Stimmt, aber es gibt auch noch den Staat.

Sie wollen im Ernst das individuelle Auto verbieten?

Sauter-Servaes: Weshalb es den Staat braucht, zeigen folgende Zahlen: Wir haben weltweit jährlich 1,2 Millionen Tote im Strassenverkehr. Stellen wir uns mal vor, das wäre im Luftverkehr ähnlich – wenn also täglich ein, zwei Flieger abstürzen würden. Dann hätte der Staat längst eingegriffen und den Luftverkehr in seiner heutigen Form verboten. Ein ebenso hohes Sicherheitsniveau wird man früher oder später für die Strasse fordern. Das funktioniert nur, wenn der Mensch mit seiner Unzulänglichkeit vom Steuer ferngehalten wird. 70 bis 90 Prozent der Unfälle basieren auf menschlichem Versagen. Die neue Technik wird dazu führen, dass man den Faktor Mensch aus dem Spiel nehmen wird.
Burgener: Hören Sie auf, mit dem Staat zu argumentieren! Wir in der Schweiz nehmen den befehlenden Staat Gott sei Dank nicht hin!

Gespräch: Markus Gisler

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Lesen Sie das vollständige Streitgespräch über die Bewältigung des immer mehr zunehmenden öffentlichen Verkehrs in der aktuellen Ausgabe des ZHAW-Impact.

Im Dossier «Unterwegs» geht es um selbstfahrende Autos und Züge, Studierende, die in Indonesien Unternehmen beraten und Dozierende, die in Kambodscha Hebammen oder in Ecuador Finanzminister coachen sowie Risiken und Nebenwirkungen des mobilen Internetzugangs.

Das Hochschulmagazin erscheint mit einem neuen Konzept, neuem Design und mit einer App, die auch für Smartphones tauglich ist.

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