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Hilfe zur Selbsthilfe

Immer mehr junge Menschen wie Seraina F.* leiden unter psychischen Erkrankungen. Ein Projekt fördert die Früherkennung und Therapie.

Haben ein niederschwelliges Interventionsangebot entwickelt: (v. l.) Agnes von Wyl und Filomena Sabatella, klinische Psychologie.

Montagmorgen bei der Startrampe, einer Eingliederungsstätte in Wetzikon. Hierher kommen jene Menschen, die ihren Platz in der Arbeitswelt noch nicht gefunden oder verloren haben und einen Weg suchen zurück in ein selbstbestimmtes Leben. An einem Tisch im Nebenzimmer der Textilwerkstatt sitzt Seraina F. (*Name geändert) Die 22-Jährige hatte als Pflegefachfrau in einem Spital gearbeitet, bis sie vor zwei Jahren an einem Burn-out erkrankte, von dem sie sich noch nicht vollständig erholt hat. Psychische Erkrankungen begleiten sie seit ihrer Kindheit. «Ich leide an ADS, Borderline und depressiven Episoden», sagt Seraina F. Seit Anfang Jahr besucht sie an fünf Tagen in der Woche das Angebot der Startrampe. In der Hoffnung, dass sie möglichst bald wieder in ihren früheren Beruf zurückkehren kann.

Zahl jugendlicher IV-Rentner steigt

Seraina F. ist nicht alleine. Bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren haben Neurenten aufgrund psychischer Probleme in den vergangenen Jahren um durchschnittlich zwei Prozent zugenommen, während die Zahl der IV-Neurenten insgesamt im selben Zeitraum deutlich gesunken ist. Eine Entwicklung, die sich im gesamten EU-Raum beobachten lässt. Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene leiden unter psychischen Erkrankungen. Wer einmal eine IV-Rente bezieht, schafft den Sprung zurück in den Arbeitsmarkt dabei häufig nie mehr. Dieser Entwicklung soll das Projekt «inklusiv» entgegenwirken, das vor zwei Jahren am Departement für Angewandte Psychologie entstanden ist. Mit dem Ziel, dass junge Erwachsene wie Seraina F. frühzeitig Zugang zu einem psychotherapeutischen Angebot erhalten.

Therapiegruppe und Selbsthilfe

In der Vergangenheit bestand das Angebot der Startrampe in Wetzikon aus vier Modulen: Arbeit, Bewerbung, Bewegung & Gesundheit sowie Allgemeinbildung. Seit Sommer 2017 gehört auch ein psychotherapeutisches Angebot dazu. Initiiert von der ZHAW, in Kooperation mit der lifetime health GmbH, welche das Integrationsprogramm Startrampe anbietet. Jeden Montagmorgen trifft sich Seraina F. zu einer freiwilligen Gruppentherapiesitzung in Wetzikon. Zusammen mit sechs bis sieben weiteren jungen Frauen und Männern sowie mit einer Psychotherapeutin der ZHAW setzt sie sich in einen Stuhlkreis. «Es ist eine Mischung aus einer Therapiegruppe und einer Selbsthilfegruppe», sagt Seraina F. Aber mit zwei grossen Unterschieden: Die Jugendlichen können die Themen selber bestimmen und sich gegenseitig aktiv unterstützen.

Ersonnen haben dieses Modell Agnes von Wyl, Professorin und Leiterin der Fachgruppe für Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Filomena Sabatella. Wie Studien zeigen, ist eine frühe therapeutische Intervention für einen positiven Verlauf einer psychischen Krankheit besonders wichtig, erklärt Agnes von Wyl in ihrem modernen Büro auf dem Zürcher Toni-Areal. «Eine von uns durchgeführte Untersuchung zeigte vor wenigen Jahren, dass viele betroffene Jugendliche jedoch zu lange warten, bis sie professionelle psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen.» Das habe verschiedene Ursachen: Die Jugendlichen fürchten sich vor einer Stigmatisierung, es fehlt ihnen am nötigen Krankheitsbewusstsein oder sie wissen nicht, wie und wo sie sich Hilfe holen können.

Niederschwelliges Angebot

Die Kooperation der ZHAW mit einem Arbeitsintegrationsprogramm ist die logische Schlussfolgerung aus Resultaten einer früheren Studie. «Wie diese zeigte, sind Jugendliche ohne feste Arbeitsstelle deutlich häufiger von psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen betroffen als solche, die eine Lehre beginnen oder eine weiterführende Schule besuchen», sagt Agnes von Wyl. Von der Invalidenversicherung finanzierte Anbieter wie die Startrampe fokussieren dabei meistens auf schulische und soziale Fertigkeiten. Psychotherapeutische Angebote gehören in der Regel nicht zum Angebot. Das möchten von Wyl und Sabatella ändern. «Dabei haben wir uns bewusst für ein niederschwelliges Angebot entschieden, damit sich möglichst viele Jugendliche davon angesprochen fühlen.»

Seraina F. hat keine Berührungsängste mit Therapieangeboten. Sie geht zur Therapie, seit sie sechs Jahre alt ist. Sie hat Einzeltherapien besucht, Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen. Das Angebot der Startrampe ist für sie dennoch eine neue Erfahrung. «Ich habe den Eindruck, dass wir Betroffenen uns hier gegenseitig helfen können.» Sie bringe oft ein Thema mit in die Gruppe. Zurzeit belasten sie ihre Einsamkeit und die Frage, wie sie mit dieser umgehen kann, ohne sich wie früher selber zu verletzen. Innerhalb des Angebots könne sie auch solche schwierigen Themen ansprechen. Die jungen Frauen und Männer in der Gruppe tauschen untereinander Ratschläge aus, erzählen von ihren eigenen Erfahrungen und Herausforderungen.

Rückmeldungen positiv

Die anwesende Therapeutin moderiert wenn nötig, stellt Nachfragen, schaut, dass der Fokus nicht verloren geht. «Wenn man mit einem Mal merkt, dass es anderen ähnlich geht und man nicht alleine ist, tut das gut«, sagt Seraina F. «Verständnis erhalten ist für mich etwas sehr Wichtiges.» Dabei erlebt sich die junge Frau nicht nur als Hilfesuchende, sondern auch als Helfende. Dass sie andere unterstützen, ihnen auch mal Ratschläge geben oder von eigenen Erfahrungen erzählen könne, gebe ihr ein gutes Gefühl. «Allerdings muss ich schauen, dass ich mich selber dabei nicht verliere. Das ist für mich manchmal etwas eine Gratwanderung», sagt Seraina F.

Die Kooperation der ZHAW mit der lifetime health GmbH dauert noch bis im Sommer 2019, finanziert wird das Projekt von der Gebert Rüf Stiftung. «Die Rückmeldungen, die wir bisher von den Teilnehmenden erhalten haben, sind sehr positiv», sagt von Wyl. Fast alle Jugendlichen der Startrampe, die für das Angebot in Frage kämen, nutzten es auch. Für viele sei es eine neue Erfahrung, in einer Gruppe von ihren Problemen zu erzählen. «Die Stigmatisierung ist auch unter Betroffenen noch immer sehr gross.» Umso erfreulicher sei es, dass es vielen Jugendlichen gelinge, sich mit Hilfe des Angebots zu öffnen. Wie es mit dem Projekt nach dem Ablauf der zwei Jahre weitergeht, ist derzeit noch offen, sagt von Wyl: «Wir hoffen, dass das Projekt in Zukunft von anderen Brückenangeboten implementiert wird. Damit ein psychotherapeutisches Angebot in Zukunft fester Bestandteil wird in der Arbeitsintegration junger Menschen.»

Autor: Simon Jäggi

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