Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

«Die Erfahrung muss man immer selber machen.»

Siril* hat als erste blinde ZHAW-Psychologiestudentin viele Widerstände überwinden müssen und damit Pionierarbeit geleistet. Zentral für ihren Erfolg waren viel Mut und die Unterstützung von Mitstudierenden.

Siril (für Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit ist es oft zusätzlich stigmatisierend, wenn ihre Geschichte öffentlich wird. Um dies zu verhindern und eine Benachteiligung in der Berufswelt zu vermeiden, nennen wir nur den Vornamen) blickt in einem Unterrichtsraum im Toni-Areal Zürich lachend in die Kamera

«Der bisher schwierigste Moment im Studium war für mich der Beginn des zweiten Semesters, als Fächer mit viel visuellem Material auf dem Stundenplan standen», erklärt die blinde Psychologiestudentin Siril. In der Biopsychologie, der Neuropsychologie oder der Statistik werden oft Modelle und Grafiken dargestellt. Einer blinden Person nützen diese im Unterricht aber wenig. Ganz im Gegenteil: Sie bedeuten sogar einen enormen organisatorischen Mehraufwand. «Das war für mich allein gar nicht zu bewältigen», betont Siril. Zum Glück fand die 23-Jährige Hilfe in ihrer Klasse. Zwei Studentinnen unterstützten sie jeweils während und nach dem Unterricht. Andere Mitstudierende stellten ihr Unterrichtsmitschriften zur Verfügung, die  sie zu Hause nachhören konnte. Mit dieser Hilfe, viel Eigeninitiative und Mut ist Siril heute auf dem besten Weg, als erste blinde Studentin ein Psychologiestudium an der ZHAW abzuschliessen. 

Von heute auf morgen blind

Der Verlust der Sehkraft kam für Siril überraschend. Es war 2016, als sich die ausgebildete Kauffrau zur Primarlehrerin weiterbilden wollte. Während der Hälfte der Berufsmaturität verlor sie innerhalb einer Woche 95 Prozent ihres Augenlichts. Die Ärzte waren zunächst ratlos. Auch Tests im Spital halfen nicht weiter. Erst bei der Operation eines geschwollenen Lymphknotens wurde der Grund für die plötzliche Erblindung gefunden: bösartige Krebszellen. Ein Retinoblastom, Augenkrebs, gegen den Siril bereits als Baby gekämpft hatte. Damals war das linke Auge betroffen gewesen, nun war die ganze rechte Körperhälfte davon befallen. Das führte in den folgenden Wochen dazu, dass Siril ganz erblindete. Während ihres einjährigen Spitalaufenthalts konnte sie noch erfolgreich ihre Berufsmaturität abschliessen. Danach folgten zwölf Monate Umschulung in Basel. «In der Umschulung habe ich meinen Lebensweg völlig umkrempeln müssen. Dort habe ich gemerkt, dass ich Psychologie studieren wollte.»

Aller Anfang ist schwer

Die grosse Frage für Siril war zunächst, wie sie als blinde Studentin ein Studium würde absolvieren können, das auf Sehende ausgelegt ist. Niemand hatte das am Departement Psychologie vor ihr gemacht. Sie war also mit zahlreichen und ganz neuen Situationen konfrontiert. Das führte gleich zu Beginn des Studiums zu einer Herausforderung. «Ich wusste nicht, wie ich die ganzen Vorlesungen und das Lernen meistern sollte», erinnert sich Siril. Zuerst versuchte sie, alle Vorlesungen mit einem Aufnahmegerät aufzuzeichnen, zuhause nachzuhören und nachzubearbeiten. Das führte aber zu einem enormen zusätzlichen Zeitaufwand. «Mir wurde schnell klar, dass ich das nicht neun Semester durchhalten würde», erklärt Siril. Klar habe sie auch Hilfe von aussen gehabt, zum Beispiel von der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld (SIBU). «Aber die Erfahrung muss man immer selber machen», erzählt die Studentin. Darum disponierte Siril nach kurzer Zeit ihre Arbeits- und Lernmethoden völlig um.

Im zweiten Semester begann die Psychologiestudentin mit neuen Ideen zu experimentieren. Sie fing an, sich die PowerPoint-Folien direkt im Unterricht über den Kopfhörer Computer vorlesen zu lassen. Gleichzeitig musste sie aber auch den Dozierenden zuhören. Das war sehr anstrengend: «Neuen Stoff von zwei Quellen gleichzeitig vermittelt zu bekommen, hat mich total überfordert», schildert Siril. Daraufhin konzentrierte sie sich nur noch auf den Unterricht und begann, während der Vorlesung in einem Word-Dokument Notizen zu machen. «Da der Unterricht jedoch zusätzlich viele visuelle Elemente wie zum Beispiel Grafiken enthielt, wurde mir immer klarer, dass ich mich in der Klasse nach Hilfe umschauen musste.»

Hilfe von Mitstudierenden wichtig

Die grösste Unterstützung erhält Siril von ihren zwei Mitstudierenden Seraina Holzer und Simone Lara. Sie sitzen im Unterricht wenn möglich jeweils rechts und links neben ihr. Von beiden bekommt Siril ganz praktische Hilfe. So kann zum Beispiel Seraina Holzer die Hand ihrer blinden Mitstudentin an den relevanten Ort eines dreidimensionalen Modells führen oder ihr die Balkengrafik einer Statistik beschreiben. Für die beiden Mitstudierenden ist das gemeinsame Studium aber ein gegenseitiges Geben und Nehmen. «Das Vertrauen, das mir Siril entgegenbringt, finde ich schön ihren Mut ansteckend», erzählt Seraina Holzer. Die drei sind nicht nur Banknachbarinnen im Unterricht, sondern wohnen auch in der gleichen Zürcher Genossenschaft und sind zusammen in einer Lerngruppe. Simone Lara ist vor allem auch als Nachbarin helfende Hand. «Mich beeindruckt Sirils unverkrampfter Kampfgeist», erklärt sie.

Selbstverständlich, erhielt Siril auch Hilfe von Seiten der ZHAW, wie zum Beispiel von der Studienleiterin Angewandte Psychologie, Barbara Schmugge. Auch die anderen Mitarbeitenden seien sehr flexibel und hilfsbereit gewesen, erklärt sie. Auch viele Dozierende unterstützen die blinde Frau. Als Beispiel erwähnt Siril das Fach Tiefenpsychologie, in dem manchmal Filmmaterial gezeigt wurde. Diese Filme waren nicht hindernisfrei. Das heisst, sie waren nicht für Menschen mit Sehbehinderung als Hörfassung aufbereitet. Die Dozentin habe sich darauf kurzerhand selbst vor das Filmmaterial gesetzt und die einzelnen Szenen mit ihren eigenen Worten beschrieben und hinterlegt. Dadurch produzierte sie für Siril quasi eine private Audiodeskription. «Das hat mir sehr vieles erleichtert», sagt Siril.

«Was erwartet mich?»

Natürlich habe es auch viele Stolpersteine gegeben, berichtet Siril. Zum Teil musste sie lange auf Prüfungstermine warten und wusste nicht, was sie erwartete. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die Prüfungen für sie angepasst werden mussten. In der Form waren die Leistungsnachweise vor allem «mündlich mit schriftlichem Charakter». Siril löste somit dieselben Prüfungen wie ihre Mitstudierenden, sie wurden ihr jedoch von den Dozierenden vorgelesen. Siril hab ihre Antworten mündlich und die Dozierenden verschriftlichten sie dann für sie. Die Unsicherheit, in welcher Form der Stoff zu bewältigen sein und wann er geprüft werden würde, waren immer wieder belastend. «Ich hätte gerne jeweils früher gewusst, was von den Fächern und den Prüfungen her auf mich zukommt.» Ihr sei bewusst, dass die Situation nicht nur für sie herausfordern gewesen sei, sondern auch für die Dozierenden. Das Anpassen der Unterrichtsmaterialien und der Prüfungen erforderte Mehraufwand auf beiden Seiten. Aufgrund dieser Erfahrungen planen sie und ihre beiden Mitstreiterinnen nur ein Dokument mit möglichen Lösungsansätzen zuhanden der ZHAW. «Künftig werden es damit Blinde einfacher haben, Psychologie an der ZHAW zu studieren», ist Siril überzeugt.

Stabsstelle Diversity

* Für Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit ist es oft zusätzlich stigmatisierend, wenn ihre Geschichte öffentlich wird. Um dies zu verhindern und eine Benachteiligung in der Berufswelt zu vermeiden, nennen wir nur den Vornamen

Im Auftrag der Stabsstelle Diversity hat das ZHAW-Departement Angewandte Psychologie eine Studie zur Lebenssituation von Studierenden mit einer Behinderung an der ZHAW durchgeführt.

Die Stabsstelle Diversity hat die Resultate der Umfrage in einen grösseren Zusammenhang gebettet und als Broschüre herausgegeben. Darin gibt sie Einblick in einen Teil ihrer fachlichen Arbeit. Themen wie hindernisfreie Didaktik oder Beratungsangebote kommen genauso zur Sprache, wie Möglichkeiten zur Anpassung von Prüfungen oder Gruppenarbeiten für Menschen mit Behinderung (Nachteilsausgleich). Drei Porträts von Studierenden zeigen ganz unterschiedliche Herausforderungen und Karrieren von Menschen mit Behinderung an der ZHAW.