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Corona-Armut: Wenn das Geld nicht mehr fürs Essen reicht

Seit Beginn der Pandemie sind immer mehr Menschen in der Schweiz auf kostenlose Lebensmittel und Mahlzeiten angewiesen. Wer sind sie? Eine Datenerhebung der ZHAW Soziale Arbeit beleuchtet die Situation in der Stadt Zürich.

Armutsbetroffene Menschen können in Caritas-Läden Lebensmittelgutscheine einlösen. (Bild: Alexandra Wey / Caritas Schweiz)

von Regula Freuler

Zu Hunderten warten sie in einer Schlange, bei Regen und bei Kälte: Frauen und Männer, Kinder und Ältere reihen sich aneinander. In den Händen halten sie Taschen und Trolleys und hoffen, diese mit den kostenlosen Lebensmitteln zu füllen, für die sie stundenlang anstehen.

Es sind Bilder aus Schweizer Städten wie Genf, Lausanne, Bern oder Zürich. Seit dem ersten Corona-Lockdown gehen sie regelmässig durch die Medien. Sie rütteln auf. Natürlich wusste man, dass es in der reichen Schweiz auch Menschen gibt, die knapp über oder sogar unter dem Existenzminimum leben – aber so viele?

«Die Pandemie hat die Not sichtbar gemacht», sagt Simone Arenz von Caritas Zürich. Im vergangenen Jahr hat die Organisation armutsbetroffene und -gefährdete Personen und Familien, deren Lage sich durch die Coronakrise zusätzlich verschärft oder verschlechtert hat, mit Gutscheinen, Überbrückungshilfen und Hygienemasken im Gesamtwert von rund 530'000 Franken unterstützt. So traurig es klinge, sagt Arenz, «wir können nur hoffen, dass diese Krise zumindest politische Auswirkungen hat.»

Genauen Bedarf ermitteln

Die Caritas ist eine von 31 Stellen in der Stadt Zürich, an denen kostenlos Lebensmittel, Lebensmittelgutscheine und/oder Mahlzeiten bezogen werden können. Zu diesen Stellen zählen nicht nur die Sozialzentren und weitere städtische Angebote wie Flora Dora oder der Treffpunkt t-alk, sondern auch private Anbieter wie eben die Caritas, die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ), die Heilsarmee, die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber und mehr. Einige bestehen schon lange, andere haben sich angesichts der Not kurzerhand organisiert. Wobei einige der privaten Anbieter nicht nur mit privaten Geldern oder Spenden finanziert werden, sondern teilweise auch von Stadt, Kanton und/oder Bund mitfinanziert werden und in manchen Fällen die Auszahlung von staatlichen Nothilfegeldern übernehmen.

Wer aber sind die Nutzerinnen und Nutzer dieser Abgabestellen? Und welche kurz- und längerfristigen Bedarfe liegen bei ihnen vor? Um dies herauszufinden, hat die Stadt Zürich die ZHAW Soziale Arbeit mit einer Datenerhebung beauftragt. Das sechsköpfige Forschungsteam unter der Leitung von Monika Götzö klärte insbesondere, welche unterschiedlichen Probleme dazu führen, dass Menschen auf kostenlose Lebensmittel angewiesen sind.

Sans-Papiers und Sexarbeitende besonders betroffen

Dazu führten die Forscherinnen und Forscher zunächst 35 Interviews mit Geschäftsleitenden und Mitarbeitenden der Abgabestellen. In den weiteren Projektphasen folgten Interviews mit betroffenen Personen, mit denen – unter Einbezug weiterer Dokumente der Abgabestellen – neun verschiedene Bezugsgruppen ausgemacht werden konnten:

  1. «Klassische» Randständige, einige davon obdachlos
  2. Ältere, einsame Menschen mit Sozialhilfe/Sozialversicherung
  3. Sozialhilfebeziehende
  4. Armutsbetroffene ohne Sozialhilfebezug
  5. Beziehende von Asylfürsorge
  6. Wanderarbeitende ohne Anspruch auf Sozialhilfe/Sozialversicherung
  7. Sexarbeitende, teilweise ohne Anspruch auf Sozialhilfe/Sozialversicherung
  8. Beziehende von asylrechtlicher Nothilfe
  9. Sans-Papiers ohne Anspruch auf Sozialhilfe/Sozialversicherung

Am unmittelbarsten und umfassendsten betroffen von der Corona-Krise sind die Sans-Papiers und die Sexarbeitenden. Sie befinden sich ohnehin schon in einer dauerhaft prekären Lage, sowohl hinsichtlich Arbeits- wie auch Aufenthaltssituation. Da sie kein Anrecht auf Sozialhilfe haben und in ständiger Angst leben, ausgeschafft zu werden, sind sie besonders auf niederschwelligen und diskreten Zugang zu Nahrungsmitteln angewiesen.

Stundenlohn: 5 Franken

Bea Schwager setzt sich seit 16 Jahren für diese Menschen ein. Sie leitet die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ). In den Büroräumen im Kreis 4 stapeln sich Kartonschachteln mit Aktionsmaterial, Pullovern und T-Shirts mit dem Aufdruck «Kein Mensch ist illegal». Im Wartezimmer liegen Kleider auf einem Regal, die gratis mitgenommen werden dürfen.

Die SPAZ hat unter anderem die Auszahlung von Nothilfe für Wohnungsmieten übernommen, denn Sans-Papiers können kein Konto eröffnen. «Corona hat die Lage für diese Menschen rasch und drastisch verschärft», sagt Bea Schwager. «Die Abgabe von kostenlosen Lebensmitteln, Mahlzeiten und Gutscheinen stellt für sie eine absolute Überlebensnotwendigkeit dar.»

Ihr gegenüber sitzt Maria, die eigentlich anders heisst. Die 63-jährige Dominikanerin hält sich derzeit mit drei Jobs über Wasser, die sie nach Monaten der Arbeitslosigkeit gefunden hat. Ihr Stundenlohn betrug während vieler Jahre fünf Franken, Aussicht auf eine AHV hat sie keine.

Panik vor der Polizei

Maria spricht mit leiser Stimme, sie erzählt von ihrem Leben in steter Ungewissheit, dem Verlust von Familie und Partner und vor allem von der Angst. «Die verstärkte Polizeipräsenz seit der Corona-Krise verursacht bei vielen Sans-Papier geradezu Panik», weiss Bea Schwager, die für eine Regularisierung dieser Menschen kämpft. «Viele leiden unter psychischen Problemen.» Dazu gehört auch Maria. Dank Unterstützung von Meditrina, einer medizinischen Anlaufstelle für Sans-Papiers ohne Krankenversicherung, konnte sie sich mit einer Therapie und Medikamenten während kurzer Zeit behandeln lassen. Zudem bietet ihr die Freiwilligenarbeit in einer Kirchgemeinde eine seelische Stütze.

Die Mehrheit der Sans-Papiers sind Frauen, die in Privathaushalten als Reinigungskräfte, Haushaltshilfen oder Kinderbetreuerinnen arbeiten. Mit der Home-Office-Pflicht entfällt bei vielen eine zentrale Verdienstmöglichkeit. Vielfach ist auch die Wohnsituation unstabil. Nicht selten werden sie ausgenutzt, indem von ihnen überteuerte Mieten verlangt werden. Mit dem Andauern der Pandemie steigt darum gerade auch bei Sans-Papiers das Risiko, die Wohnung zu verlieren. Die Folge sind noch beengtere Wohnverhältnisse als bisher. Quarantänevorschriften einzuhalten, ist unter diesen Umständen unmöglich. «Dagegen wehren können sich Sans-Papiers aber nicht», sagt Bea Schwager.

Überleben von Tag zu Tag

Laut Datenerhebung der ZHAW befinden sich Familien und Alleinerziehende, deren Einkommen infolge Kündigung oder Kurzarbeit massiv eingebrochen ist, ebenfalls in einer hochgradig prekären Situation. Caritas-Mitarbeiterin Simone Arenz erzählt von einer Familie mit Aufenthaltsbewilligung B aus dem Kanton Zürich. Der Vater ist Chauffeur im Zuliefergeschäft der Gastronomie. Seit der Pandemie ist jeder Tag eine Überlebensübung. «Der Mann wurde entlassen, nach einigen Monaten wieder eingestellt und dann wieder entlassen, als die Restaurants erneut schlossen», sagt Arenz. Die vierköpfige Familie lebt weit unter dem Budget der Sozialhilfe.

Viele Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus wollen jedoch gar nicht erst Sozialhilfe beantragen. «Zum einen schämen sie sich, zum anderen fürchten sie rechtliche Probleme», so Caritas-Mitarbeiterin Arenz. Zur Angst vor dem Entzug der ausländerrechtlichen Bewilligung kommt die Sorge wegen möglichen, restriktiven Massnahmen des Sozialamtes, beispielsweise indem ihnen das Auto weggenommen wird oder sie in eine andere Wohnung umziehen müssen.

Zu dieser grossen Gruppe gehören Familien, Alleinerziehende, Selbständigerwerbende sowie im Niedriglohnsektor Angestellte, sogenannte «Working Poor». Einige haben einen Schweizer Pass, andere haben Aufenthaltsstatus B oder C. Letztere leben teilweise seit vielen Jahren in der Schweiz. Diese Gruppe scheint im Moment in grosser Zahl an den Abgabestellen von kostenlosen Lebensmitteln, Lebensmittelgutscheinen oder Mahlzeiten als neue Gesichter der Armut aufzutauchen. Ihre Not ist gross, die Situation aussichtslos und die psychische Belastung enorm, wie die ZHAW-Datenerhebung zeigt.
Ihre Situation dürfte sich in den nächsten Monaten weiter verschlechtern, wenn die Einkommenseinbussen anhalten. Und wenn in anderthalb bis zwei Jahren die ALV-Zahlungen auslaufen und keine neue Stelle gefunden ist, drohen diese Menschen in die Existenznot zu rutschen und letztlich ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlieren.

Wie weiter?

Selbst bei einer allmählichen Entschärfung der Pandemie-Massnahmen dürften sich die wirtschaftlichen Umstände nicht so rasch und auch nicht im nötigen Ausmass verbessern. Längerfristige Überlegungen, wie Bezügerinnen und Bezüger von kostenlosen Lebensmitteln unterstützt werden können, sind daher angezeigt.

Ebenso zeigt die Datenerhebung, dass eine umfassendere, breiter gestreute Information an Betroffene zum gesamten Hilfsangebot in der Stadt Zürich sinnvoll wäre. Wir fragen Maria, welche Abgabestellen sie kennt. «Essen für alle» an der Hohlstrasse? Maria neigt den Kopf fragend zur Seite. Den Verein Incontro, der jetzt bei der Europaallee Esspakete verteilt? Maria verneint. Vielleicht zwei oder drei Mal sei sie für Lebensmittel angestanden, mehr nicht. «Demasiada gente», sagt sie, zu viele Leute. Mit anderen Worten: Zu auffällig für Menschen wie sie.

Interview mit Projektleiterin Monika Götzö

Medienanfragen

  • Monika Götzö, Projektleiterin und Leiterin des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe, ZHAW Soziale Arbeit
  • Michael Herzig, Dozent und Senior Researcher, ZHAW Soziale Arbeit
  • Eva Mey, Dozentin und Senior Researcher, ZHAW Soziale Arbeit

Veranstaltung «fokus sozial»: Sans-Papiers

Eine grosse Zahl von Menschen hierzulande lebt ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Wie viele so genannte Sans-Papiers es sind, weiss man nicht genau. Die Schätzungen schwanken zwischen 75'000 und 250'000 Personen. Seit rund 20 Jahren versuchen verschiedene soziale Interessegruppen, eine Regularisierung dieser Menschen, deren Situation sich während der Pandemie verschärft hat, zu erreichen oder zumindest die Härtefallregelung zu verbessern.

Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe «fokus sozial» sprechen wir am 23. Juni 2021 mit Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papier-Anlaufstelle Zürich (SPAZ) über die Frage: Wie können Sans-Papiers in der Schweiz ein würdigeres Leben führen?