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Warum betreuende Angehörige zu selten Hilfe holen

Fast 600’000 Personen betreuen hierzulande ältere oder beeinträchtigte Angehörige. Dennoch werden entlastende Tages- und Nachtstrukturen noch zu wenig genutzt. Die Gründe dafür zeigt eine Studie der ZHAW und des Forschungs- und Beratungsbüros Econcept auf.

von Regula Freuler

Die Zahl ist enorm: Jährlich werden in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen geleistet. Umgerechnet auf durchschnittliche Arbeitskosten ergibt sich ein Geldwert von 3,7 Milliarden Franken pro Jahr. Zur vorübergehenden Entlastung der rund 590’000 pflegenden Angehörigen werden sogenannte Tages- und Nachtstrukturen angeboten. Die kranken, behinderten, psychisch beeinträchtigten sowie älteren Personen können dabei stunden- oder tageweise in einer Einrichtung betreut werden.  

Die Studie «Tages- und Nachtstrukturen – Einflussfaktoren der Inanspruchnahme» untersucht erstmals, wie das Angebot in der Schweiz gestaltet ist, wann und warum es genutzt wird. Sie entstand in Zusammenarbeit der ZHAW Soziale Arbeit mit dem privaten Zürcher Forschungs- und Beratungsunternehmen Econcept. Beauftragt wurde sie durch das Bundesamt für Gesundheit im Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017 – 2020».

Schuldgefühle halten Angehörige zurück

Insgesamt besteht laut der Studie eine grosse Vielfalt an Tages- und Nachtstrukturen. Dabei zeigen sich grosse Unterschiede, was die Flexibilität der Öffnungszeiten und die Verfügbarkeit von Plätzen angeht. Mancherorts herrschen grössere Versorgungslücken. So besteht für Kinder und Jugendliche generell eine Unterversorgung. Ebenso fehlen gewisse Strukturen für Erwachsene mit Behinderung, für Suchtbetroffene und Personen mit Frühdemenz.  

Die beste Versorgungslage findet sich im Altersbereich. Dennoch werden manche Angebote noch zu wenig genutzt. Dafür gibt es verschiedene Gründe, unter anderem unpassende Öffnungszeiten. «Die Möglichkeit, das Betreuungsangebot für einzelne Stunden, Halbtage oder Nächte zu nutzen oder bei einem Notfall auch einmal kurzfristig zu beanspruchen, würde dieses für Angehörige deutlich attraktiver machen», sagt Co-Studienleiterin Sarah Neukomm von Econcept. Das unflexible Angebot der Tages- und Nachtstrukturen veranlasst betreuende Angehörige oft dazu, es nicht zu nutzen. «Das ist insofern problematisch, als die Zahl der Betreuungsbedürftigen aus demografischen Gründen vor allem bei den älteren Personen kontinuierlich steigt», sagt Co-Studienleiterin Monika Götzö von der ZHAW Departement Soziale Arbeit. Und es birgt ein weiteres Risiko: «Weil die Betreuenden – in den meisten Fällen handelt es sich um Frauen – oftmals im Beruf zurückstecken, um genug Zeit für die Pflege zu haben, droht ihnen später im Alter die Armut.»

«Das Ziel ist eine gute Mischung an dezentralen, altersstufen- sowie förderbedarfsgerechten Angeboten.»

Monika Götzö, Co-Studienleiterin

Warum nutzen Angehörige zu selten Tages- und Nachtstrukturen oder erst sehr spät, wenn sie kräftemässig bereits an ihre Grenzen gestossen sind? Hier spielen viele Faktoren mit hinein, sagt Monika Götzö: «Viele empfinden Schuldgefühle gegenüber ihren Angehörigen, oder diese wollen sich gar nicht erst fremdbetreuen lassen.» Dementsprechend wünschen sich Angehörige primär mehr Unterstützung im eigenen Zuhause und nicht in einer fremden Einrichtung. Dazu kommen Probleme bei der Finanzierung oder administrative Hürden.

Bessere Informationen nötig

Um die Situation sowohl in ihrer Breite wie auch in ihrer Tiefe zu analysieren, wählte das Projektteam ein gestaffeltes Vorgehen und grenzte die Datenbasis schrittweise ein. Für die Studie wurden zunächst über 20 Interviews mit Interessenorganisationen wie Curaviva, Kinderspitex und Pro Infirmis geführt. In der zweiten Phase führte das Projektteam eine Online-Befragung bei Anbietern von Tages- und Nachtstrukturen durch. Dabei werteten die Forschenden 600 Fragebogen aus allen Kantonen der Schweiz aus.

In der dritten Projektphase analysierten sie die Inanspruchnahme von 18 Anbietenden aus 11 Kantonen vertieft und formulierten Empfehlungen in fünf zentralen Handlungsfeldern. «Das Ziel ist eine gute Mischung an dezentralen, altersstufen- sowie förderbedarfsgerechten Angeboten», sagt Monika Götzö. Zentral ist laut den Studienleiterinnen eine koordinierte, vernetzt arbeitende sowie interdisziplinär ausgerichtete Versorgung, die Tages- und Nachtstrukturen in der kommunalen und regionalen Versorgungsketten fest verankert.

Finanzierung neu regeln

Wären die Angehörigen besser informiert, dann würde auch die Nachfrage nach Tages- und Nachtstrukturen steigen. Davon ist das Forschungsteam überzeugt. Vor allem aber gebe es bei der Finanzierung noch erheblichen Verbesserungsbedarf, so die Co-Studienleiterinnen.

Die Corona-Krise könnte bisherige Bestrebungen auf Jahre hinaus verzögern. «Wir haben gesehen, wie systemrelevant die Betreuung ist und was passieren kann, wenn die Institutionen an ihre Grenzen stossen», sagt Monika Götzö. Statt weiterer Sparmassnahmen im Gesundheits- und Sozialbereich sollten vielmehr Angebote lanciert, Finanzierungen neu geregelt und die Betreuung insgesamt aufgewertet werden. Dies kommt sowohl den betreuten Personen wie auch ihren Angehörigen direkt zugute, betont Götzö: «Sie finden Unterstützung und können ihre Angehörigen dadurch länger zu Hause betreuen – das ist es, was sich letztlich die meisten Menschen wünschen.»

Kontakt

Monika Götzö, ZHAW Soziale Arbeit, Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe

monika.goetzoe@zhaw.ch

Telefon 058 934 88 30