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Physical Distancing ja, Social Distancing nein

Benachteiligte Bevölkerungsgruppen trifft die Corona-Krise besonders hart. Um unsere Solidarität mit ihnen zu signalisieren, sollten wir auf den Begriff «Social Distancing» verzichten.

von Peter Streckeisen

Hände waschen, in die Armbeuge niesen und vor allem: Abstand halten. Als «Social Distancing» werden Massnahmen bezeichnet, mit denen die Regierungen seit dem Ausbruch des Coronavirus das öffentliche Leben weitgehend einschränken. Überall werden wir angehalten, auf Distanz zu gehen und am besten gleich zu Hause zu bleiben.

Was fraglos notwendig ist, um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen, kann für viele Menschen gravierende negative Auswirkungen auf das physische und psychische Wohlbefinden haben und das soziale Zusammenleben allgemein schwerwiegend beeinträchtigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zieht deshalb inzwischen den Begriff «Physical Distancing» vor. Nicht soziale Distanz, sondern soziale Nähe soll gefördert werden – trotz physischer Distanz.

Diese Botschaft ist bei den zuständigen Behörden noch zu wenig angekommen. Wie in jeder Krise, besteht auch jetzt die Gefahr, dass sich soziale Ungleichheiten verschärfen, dass Angehörige bestimmter Gruppen diskriminiert werden, oder dass Fremdenfeindlichkeit durchdringt. In dieser Situation ist Kommunikation von entscheidender Bedeutung, und es kommt darauf an, welche Begriffe eingesetzt werden. Worte sind mehr als Buchstabenreihen. Sie prägen unser Denken – und damit den Umgang mit den Mitmenschen.

Mehr Wohnraum bereitstellen

Aber selbstverständlich geht es nicht nur um Worte. Auch die Politik ist nun gefordert. Zum Beispiel muss zusätzlicher Wohnraum für besonders vulnerable Gruppen bereitgestellt werden. Dies betrifft Menschen ohne (festes) Obdach, aber auch Personen in Asylzentren und Notunterkünften, wo die Vorgaben zum Abstandhalten nicht eingehalten werden können. Aufgrund der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie stehen zahlreiche öffentliche Einrichtungen – etwa Schulen und Kirchen – leer, die zur Not als Unterkunft genutzt werden können. Noch besser geeignet wären Hotelzimmer oder Zweit- und Ferienwohnungen.

«Nicht soziale Distanz, sondern soziale Nähe soll gefördert werden – trotz physischer Distanz.»

Dr. Peter Streckeisen, Dozent ZHAW Soziale Arbeit

In ökonomischer Hinsicht sind Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und Selbständige durch die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie weitaus existenzieller bedroht als Personen in dauerhafter Anstellung mit komfortablen Einkommen. Durch die Krise werden viele von ihnen abhängig von der Sozialhilfe oder anderen Sicherungssystemen. Es ist entscheidend, dass ihnen rasch und unkompliziert geholfen wird. Die in den vergangenen Jahren verschärften Sanktionen und Leistungskürzungen müssen ausgesetzt werden. Der Sozialhilfebezug darf auch kein Grund mehr sein, um Aufenthaltsstatus oder Familiennachzug in Frage zu stellen.

Krisen führen zu Rassismus

In jeder Krise sind gewisse Teile der Bevölkerung besonders empfänglich für fremdenfeindliches Gedankengut. Der antiasiatische Reflex ist ebenso gefährlich wie der Ruf nach Grenzschliessungen. Das Virus kennt keine Grenzen. Die Menschheit schwächt sich im Kampf gegen Corona, wenn sie sich unter ethnonationalen Gesichtspunkten auseinanderdividieren lässt.  Die Menschenrechte der Personen in Flüchtlingslagern, Asylzentren und Notunterkünften sind durch die Regierungen endlich zu schützen. Asylbefragungen und Ausschaffungen sollten ausgesetzt werden. Dringende Solidarität brauchen die Sans-Papiers, deren Zugang zu medizinischer Versorgung und staatlichen Unterstützungsleistungen stark eingeschränkt ist.

Die Älteren schützen

Ein besonderes Augenmerk müssen wir den Beziehungen zwischen den Generationen widmen. Von den Jungen werden grosse Opfer verlangt, um die ältere Generation zu schützen. Wir dürfen die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aber nicht einfach ignorieren. Auf der anderen Seite beschränken sich auch die Bedürfnisse älterer Menschen nicht darauf, gegen das Virus geschützt zu sein. Sie brauchen mitunter Hilfe, um ihre sozialen Kontakte weiter pflegen können.

Schliesslich ist darauf zu achten, dass es in der medizinischen Versorgung nicht zu Altersdiskriminierung kommt. Es ist problematisch, dass die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften in ihren Triage-Kriterien das Alter als Selektionskriterium aufführt.

Soziale Arbeit: Kreative Lösungen gefragt

Nicht nur die Politik ist gefragt, auch die Soziale Arbeit ist gefordert. Die Information benachteiligter Bevölkerungsgruppen über die Auswirkungen der Pandemie und die behördlichen Massnahmen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Soziale Einrichtungen dürfen zudem während der Corona-Krise nicht einfach geschlossen oder Angebote ersatzlos eingestellt werden. Vielmehr gilt es, kreativ und pragmatisch Alternativen zu entwickeln.

Die Soziale Arbeit sollte dabei über das unmittelbar Lebensnotwendige hinaus auch die Qualität des sozialen Zusammenlebens unter besonderen Bedingungen in den Blick nehmen. Sei es bei der Unterstützung zur Nutzung digitaler Kommunikation, bei der Organisation von Nachbarschaftshilfe oder bei der Verbreitung neuer Aktionsformen wie Solidaritätsbekundungen an Balkonen und Fenstern: Es braucht stets Initiative, Vernetzung und Organisation, und wir können nicht davon ausgehen, dass sich diese im ganzen Land spontan aus der Bevölkerung heraus entwickeln.

Die Sozialarbeitenden sind Profis bei der Herstellung sozialer Nähe. In der Corona-Krise müssen sie zeigen, dass sie dies auch können, wenn es Abstand zu halten gilt. Damit aus dem «Social Distancing» nicht soziale Isolation und noch mehr soziale Ungleichheit resultiert, ist ihr professionelles Handeln mehr denn je gefragt.