Neue Weiterbildung stärkt Opferhilfe
Über 50 000 Menschen haben 2024 in der Schweiz Opferhilfe beansprucht. Damit Fachpersonen Betroffene wirksam, diversitätssensibel und praxisnah begleiten können, bietet die ZHAW Soziale Arbeit neu den CAS «Opferhilfe für die Praxis» an.

von Claudia Peter
Im Jahr 2024 haben 51 547 Menschen in der Schweiz Opferhilfe beansprucht, wie das Bundesamt für Statistik schreibt. Das sind fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Es sind Menschen, die zu Hause oder im öffentlichen Raum eine Form von Gewalt erlebt haben: Frauen, Kinder, Männer, LGBTQIA-Personen aus allen sozialen Schichten, mit allen kulturellen Hintergründen. Wie diese Menschen am besten unterstützt werden, ist Inhalt eines neuen Weiterbildungsangebots der ZHAW Soziale Arbeit.
Aus der Praxis für die Praxis
Die Weiterbildung mit Abschluss Certificate of Advanced Studies (CAS) wurde entwickelt, weil zum einen ein Bedarf nach mehr Studienplätzen in diesem Bereich besteht. Jede in der Opferhilfe tätige Person muss einen entsprechenden CAS absolvieren. Bislang gab es in der Schweiz aber nur ein solches Angebot, und zwar in Bern. Es kam zu Wartelisten, Personen arbeiteten bisweilen mehrere Jahre in der Opferhilfe, bis sie den für ihre Arbeit erforderlichen CAS absolvieren konnten. «Das ist natürlich nicht ideal, weder für die Beratenden noch für die Adressat:innen», sagt Lea Hollenstein. Sie forscht an der ZHAW Soziale Arbeit zum Thema Opferhilfe und ist Co-Leiterin des neuen Studiengangs.
Doch es geht um mehr als nur Ausbildungsplätze: «Die Fachpersonen der Opferhilfe im Kanton Zürich sollen über opfergruppenspezifisches Fachwissen und Diversitätskompetenz verfügen, um adressat:innengerechte Hilfe leisten zu können», betont Hollenstein. Sie und ihr Team entwickelten deshalb den Studiengang gemeinsam mit Fachpersonen aus der Praxis und der kantonalen Behörde. «Wir haben die Befunde aus der Bedarfserhebung, die wir letztes Jahr im Auftrag der Kantonalen Opferhilfestelle durchführten, als Grundlage genommen und den CAS «Opferhilfe für die Praxis» speziell auf die im Bericht festgestellten Schwächen der aktuellen Opferhilfe ausgelegt.» Rechtliche, psychosoziale, finanzielle und interprofessionelle Themen bekommen ebenso Raum wie eine traumasensible Gesprächsführung.
Gefährliche Unterstützungslücken
Besonderes Augenmerk wird im Studiengang auf die integrierte Fallführung und die Verknüpfung der verschiedenen beteiligten Stellen gelegt. «Immer wieder fallen Personen durch die Netze, gerade bei Übergängen etwa von der Sozialhilfe zur Opferhilfe oder von einer stationären Institution wie einem Frauenhaus zu einer ambulanten Opferberatungsstelle. Hollenstein beschreibt ein Beispiel, eines, «bei dem es eben nicht funktioniert hat»: Eine Frau erlebt häusliche Gewalt und sucht zu ihrem Schutz ein Frauenhaus auf. Von dort tritt sie aufgrund eines psychischen Zusammenbruchs in eine stationäre Klinik ein. Als es ihr besser geht und sie entlassen wird, ist sie auf sich allein gestellt, obwohl sie noch professionelle Hilfe bräuchte. Sie hat keine Wohnung, weiss nicht, wer sie unterstützen könnte. Das Frauenhaus betrachtet sich nicht mehr zuständig, eine Vermittlung an eine ambulante Opferberatung ist nicht erfolgt, weder über das Frauenhaus noch die Klinik. «Die Gefahr ist in so einem Fall sehr gross, dass jemand in alte, potenziell gefährliche Strukturen zurückkehrt, also etwa zu einem gewalttätigen Partner. Für die Bewältigung der Gewalt ist eine durchgehende Hilfe und adäquate Nachsorge zentral.»
Opferhilfe wirksam gestalten
Dem pflichtet Brigitte Kämpf bei. Sie ist eine der Dozentinnen des neuen CAS «Opferhilfe in der Praxis» und Co-Leiterin der «Frauenberatung : sexuelle Gewalt» Zürich. Kämpf bringt über dreissig Jahre Praxiserfahrung im Opferhilfebereich mit. «Am besten wäre ja, wenn eine Beraterin der Opferhilfe einen Adressaten beziehungsweise eine Adressatin im ganzen Prozess begleiten könnte.» Da dies strukturell derzeit aber nicht so organisiert ist, hält Hollenstein es für umso wichtiger, dass Mitarbeitende besonders auf ein gutes Zusammenspiel der Institutionen sensibilisiert sind. «Die Opferhilfe steht an der Schnittstelle sehr vieler Bereiche. Es geht um juristische Fragen, um Fragen der Sozialversicherungen, aber auch um psychotraumatologische, soziale und medizinische Aspekte. Im CAS lehren wir, wie die verschiedenen Stellen in der Praxis gut zusammenarbeiten und gemeinsam eine nachhaltig wirksame Opferhilfe gewährleisten können.»
Die Forscherin und Dozentin ergänzt: «Ausserdem lernen die Teilnehmenden, sich ganz praktischer Sachen bewusst zu werden. Ein Beispiel: Man drückt einer hilfesuchenden Person nicht einfach einen Flyer mit einer Telefonnummer in die Hand, sondern ruft selber bei der entsprechenden Stelle an, damit die Person ihre Situation nicht nochmals erzählen muss. Oder: Man sorgt dafür, dass die Person am nächsten Ort ankommt und dort die Unterstützung bereit ist und diese Person gut empfangen kann. Wenn man Gewalt erfahren hat, können solche vermeintlich kleinen Dinge zu viel sein.”
Niederschwelliger Zugang gewähren
Einen weiteren Fokus wird im CAS auf die diversitätssensible Schulung der Fachpersonen gelegt. Das Ziel ist, dass für alle Menschen ein möglichst niederschwelliger Zugang zur Opferhilfe gewährleistet ist. Lea Hollenstein erklärt: «Wir stellen fest, dass viele Menschen zwar wissen, dass es die Opferhilfe gibt. Sie nehmen sie aber nicht in Anspruch, dies in der Annahme, dass ihr Fall nicht schwerwiegend genug ist. Oder, weil sie sich schämen. Niemand möchte ein Opfer sein.» Der CAS sensibilisiert darauf, wie die Angebote der Opferhilfe so kommuniziert werden können, dass sie alle betroffenen Menschen ansprechen.
In der Bedarfserhebung, die Lea Hollenstein als Co-Leiterin verantwortet, werden weitere Gründe festgehalten, weshalb manche Betroffene die Opferhilfe nicht in Anspruch nehmen: etwa, weil sie dem Angebot nicht vertrauen und sich davor fürchten, nicht ernstgenommen oder diskriminiert zu werden. Oder, weil sie psychisch oder ganz praktisch im Zugang gehemmt sind.
Zugänglichkeit heisst je nach Betroffenengruppe etwas anderes. Hollenstein nennt zwei Beispiele: Bei Menschen mit Beeinträchtigung bedeutet einfacher Zugang zur Opferhilfe z.B., dass Informationen auch in Blindenschrift oder einfacher Sprache zugänglich sind oder dass Beratungs- und Schutzräume barrierefrei sind. Bei LGBTQIA-Personen ist es wichtig, dass sie eigene Schutzräume haben. «Gerade eine trans Person braucht einen Schutzraum, wo ihr vorurteilsfrei begegnet wird, auch von den anderen Schutzsuchenden. Wenn sie etwa in einem Frauenhaus von Personen mit anderem ideellem Hintergrund mit negativen Vorurteilen konfrontiert wird, ist das kein Schutzort.»
Zurück in ein selbstbestimmtes Leben
In den Studienmodulen wird immer wieder mit konkreten Fallbeispielen gearbeitet, viele Dozent:innen sind nach wie vor in der Praxis tätig. Dozentin Kämpf etwa arbeitet rund fünfzig Prozent direkt in der Beratung von Klientinnen. Sie weiss, wovon sie spricht, wenn sie sagt: «Man ist in der Opferhilfe mit viel Elend, mit viel Erschreckendem konfrontiert. Aber man kann auch viel bewirken.» Es geht darum, Menschen nach der Ohnmachtserfahreung, zu ermächtigen damit sie sich wieder als selbststeuerungsfähig erleben können. «Menschen dabei begleiten zu dürfen, wieder in ein selbstbestimmtes Leben zurückfinden, ist etwas Sinnstiftendes und darum etwas unglaublich Erfüllendes», begründet Brigitte Kämpf ihre Berufswahl. «Das möchte ich meinen Studierenden auf den Weg geben.»