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Corona und Jugendarbeit: Was bringen digitale Tools?

Wir haben Fachpersonen der Jugendsozialarbeit gefragt, wie sie in Zeiten von Physical Distancing mit ihrer Klientel in Kontakt bleiben.

Für viele junge Menschen ist eine digitale Kontaktaufnahme niederschwelliger, als wenn sie persönlich bei einer Beratungsstelle vorbeigehen müssen. (Bild: iStock)

von Regula Freuler

Ein paar Jugendliche sitzen beisammen: «Wenn du dich entscheiden müsstest, was würdest du eher opfern: deinen linken Arm oder dein Handy?» Langes Zögern.

Die Szene stammt aus einer amerikanischen High-School-Comedy. Allerdings ist anzunehmen, dass das Drehbuch von einem Erwachsenen geschrieben wurde, der selbst kaum weniger Bildschirmzeit hat als die karikierten Teenager.

Was dennoch richtig ist: Wer Jugendliche gut erreichen will, sollte auch digital unterwegs sein. Der ZHAW-Alumni Rafael Freuler hat das schon früh erkannt und ab 2013 mit der Stadt Winterthur die Jugendapp entwickelt. Sie ermöglicht eine niederschwellige, lokale Jugendarbeit. Die Funktionen und das Design lassen sich auf die örtlichen Bedürfnisse und Angebote massschneidern. Das reicht von Jobbörsen über Veranstaltungskalender, News, Chat-Beratung bis zu juristischen Informationen. Basel und Glarus bieten eine Funktion an, um Mitspielende für Multiplayer-Games zu finden, die in der Region wohnen. Bern wiederum liess im Rahmen eines Pilotprojekts den Kontakt zur Schulsozialarbeit einbauen. Heute zählt die Jugendapp rund 40 lizenzierte Träger, mit denen insgesamt 200 Gemeinden in der Schweiz, in Deutschland und Österreich eingebunden sind.

Bestehende Kontakte aufrechterhalten

Seit Beginn der Corona-Pandemie hat das Interesse an digitaler Jugendarbeit enorm zugenommen. Das spürte man auch in der Zentrale der Jugendapp. «Viele Sozialarbeitende riefen an und erkundigten sich, wie man analoge Jugendarbeit durch digitale ersetzen kann», erzählt der Interaction Designer, der auf dem zweiten Bildungsweg Soziale Arbeit studierte. «Ein Ersatz sind sie natürlich nicht. Aber was digitale Angebote sehr gut können, ist, bereits bestehende Beziehungen zu pflegen, wenn der physische Kontakt eingeschränkt ist.» Ebenso bieten sie sich als Anlaufstelle für eine erste Kontaktaufnahme an, dem ein physischer folgen kann. Das gilt mit wie auch ohne Pandemie.

Wie ist es jenen Jugendstellen ergangen, welche die App bereits vor Corona genutzt haben?

Anruf bei Claudia Reyes bei Jugendinfo Winterthur. Sie ist für die Jobbörse smalljobs.ch zuständig, die ab 2015 gleichzeitig mit der Jugendapp entwickelt worden ist. Während des ersten Lockdowns musste man diese Funktion sistieren. «Alle waren damals solidarisch unterwegs, sodass man keine Bezahlung für Erledigungen wie Einkäufe verlangen konnte», sagt Reyes.

Anonyme Chat-Funktion

Sie haben die App-Funktion darum kurzerhand in eine Nachbarschaftshilfe-Börse geändert und mit einer Push-Nachricht nach freiwilligen Helferinnen und Helfern gesucht: «Für die Jugendlichen war das in Ordnung, zumal sie trotzdem oft einen ‹Batzen› als Dankeschön bekommen haben.»

Auftraggebende von smalljobs.ch sind häufig Seniorinnen und Senioren. Normalerweise besucht Claudia Reyes Orts- und Quartiervereine oder das Altersforum «Älter werden in Winterthur», um Aufträge zu akquirieren. Seit der Corona-Pandemie arbeitet sie mit Pro Senectute und dem Verein «Senioren für Senioren» zusammen, weil diese noch physischen Kontakt zu den Menschen haben.

Im Januar erhielt die Jugendapp ein Update. Unter anderem ist es jetzt möglich, dass Jugendliche anonym Kontakt aufnehmen mit Sozialarbeitenden und anonym chatten können. Wie wird dieses Angebot genutzt? Spürt man den wachsenden Unmut oder gar die psychischen Schwierigkeiten unter Teenagern? «Sie sind zwar Corona-frustriert und vermissen die Aktivitäten, aber von schwerwiegenderen gesundheitlichen Folgen haben wir direkt nichts mitbekommen», sagt die Jugendsozialarbeiterin.

News selbst produzieren

In der Stadt St. Gallen ist der Multimedia-Experte Benjamin Hanimann für die digitalen Lösungen bei der Jugendinformationsstelle «Tipp» zuständig. Er gehört seit gut zwei Jahren zum Team. «Wir rückten ab von der Haltung: ‹Die Jugendlichen kommen dann schon zu uns, wenn sie Fragen haben›, und verfolgen stattdessen den Ansatz, ihr Interesse für neue Themen zu wecken.» Zum Beispiel produzieren sie News-Beiträge über eine beliebte Fernsehmoderatorin, LGBTQI oder über Victim-Blaming. Diese posten sie auf dem Instagram-Kanal mit dem Ziel, Jugendlichen den Zugang so einfach wie möglich zu gestalten. So finden die Jugendlichen den Weg zur App und dadurch auch ins «Tipp».

«Die App ist für uns eine Chance, alle unsere Angebote zusammenzuziehen: Veranstaltungen, Juristisches, News, Videos», erklärt Hanimann. Seit dem neusten Update im Januar haben sich zahlreiche Jugendtreffs gemeldet, die auf der App vertreten sein möchten. Der nächste Schritt sei abzuklären, ob man auch die Schulsozialarbeit über diesen digitalen Weg kontaktieren können sollte.

Beratung zu Geld und Steuern

Der nächste grosse Event ist ein Workshop zum Thema Steuern Mitte März. Er findet jährlich statt, diesmal zum ersten Mal online. Hanimann hat vorgängig Videos mit Mitarbeiterinnen des Steueramtes gedreht, die man sich zwei Wochen lang bis zum Workshop anschauen kann. Am Event selbst können Jugendliche via App in einem Gruppen-Chat Fragen stellen oder auch in einem separaten Kanal, wenn es zu vertraulich wird. «Geld ist ein grosses Thema», weiss Hanimann. «Online einzukaufen oder Games mit einem Klick zu bezahlen, ist zwar praktisch, aber das Risiko und die Fälle einer Verschuldung haben zugenommen.»

Er kennt die Befürchtungen, die manche Sozialarbeitenden mit digitalen Lösungen verbinden, nämlich den persönlichen Kontakt zu verlieren. Er ist aber überzeugt: «Die Chancen sind grösser, dass ein neuer Kontakt entsteht, wenn die Jugendlichen sehen, dass wir etwas Cooles machen.» Die Rückmeldungen geben ihm bisher Recht.

Zunehmende Online-Müdigkeit

Das kann Simon Furgler bestätigen. Er arbeitet in der Kinder- und Jugendfachstelle Aaretal im Bernischen Münsingen. Als sie 2016 eine professionelle Jugendjobbörse aufbauten, seien sie regelrecht überrannt worden, erzählt er. Zunächst nutzten sie die Onlineplattform jobs4teens.ch der Pro Juventute. Als diese vor zwei Jahren mit smalljobs.ch fusionierte und an die Jugendapp angebunden wurde, war es für den Sozialarbeiter und sein Team klar, diese zu lizenzieren. Seither bauen sie das Angebot der Funktionen sukzessive aus.

Als die Fachstelle Aaretal Corona-bedingt nur reduziert besetzt war, seien sie sehr froh gewesen um die App. «Ausserdem konnten wir Zoom-Veranstaltungen, Freitag-Treffs und Geocaching-Anlässe organisieren», so Furgler. «Wir waren auch vermehrt aufsuchend unterwegs und haben Beziehungspflege via Social Media betrieben.»

Allerdings stelle er mittlerweile bei virtuellen Events eine gewisse Online-Müdigkeit unter den Jugendlichen fest, sagt der Berner: «Digitale Tools sind ein hervorragendes Hilfsmittel, vor allem bei interaktiven Dienstleistungsangeboten, aber sie allein reichen nicht für eine umfassende Jugendarbeit.»

Wissenschaftliches Projekt zu digitaler Jugendarbeit

In einer Studie eruieren Andrea Scholian und Martin Biebricher vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie die Nutzung verschiedener digitaler Kanäle in der Jugendarbeit während der Corona-Pandemie. Dabei geht es nicht nur darum, wie digitale Jugendarbeit umgesetzt werden kann, sondern auch darum, wie Jugendsozialarbeitende und Teenager diese bewerten. Von besonderem Interesse ist, welche Chancen und Grenzen Fachpersonen der Sozialen Arbeit in digitalen Medien sehen.

Die Studienergebnisse werden voraussichtlich im Frühjahr 2021 mit diesem Newsletter kommuniziert.
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