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Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Es hört sich fast unglaublich an: Nach langem Hin und Her hat sich Gabriela von Arnim entschlossen, sich von ihrem Mann Martin Schulze, Journalist und ARD-Chefredakteur zu trennen. Und genau an diesem Tag, nur kurz, bevor sie ihm ihre Trennungsabsicht eröffnet hat, erleidet er einen schweren Schlaganfall, zehn Tage später den zweiten.

Der Schlaganfall hatte sich nicht angekündigt, Martin Schulze war sportlich, als es geschah, er spielte Tennis, fuhr Fahrrad und war privat wie beruflich ein glänzender Redner. Nach den beiden Schlaganfällen konnte er nie wieder gehen, zu sprechen bereitete ihm unsägliche Mühe, und so sehr er sich auch anstrengte, andere konnten ihn kaum noch verstehen. Schulze aber hört alles, versteht alles, seine geistigen Fähigkeiten sind völlig intakt. Seine Ehefrau, die sich dann doch entschlossen hat, bei ihm zu bleiben, kümmert sich um ihn, geht mit ihm gemeinsam diesen schwierigen Lebensweg. Unterstützung erhalten sie von einer hingebungsvollen, witzigen Pflegerin. Hin und wieder kommen Freunde von früher vorbei, doch es macht von Arnim zornig zu sehen, dass manche weinen, wenn sie diesen zerbrochenen Mann zum ersten Mal sehen. Sein Zustand verschlimmert sich, er erleidet mehrere Lungenentzündungen und Thrombosen, ein Luftröhrenschnitt wird in Erwägung gezogen, eine Magensonde gelegt, später ein wochenlanges Koma – der Mann erlebt Furchtbares, immer wieder schwebt er zwischen Leben und Tod. Nach zehn Jahren in seinem Körpergefängnis kann und will er nicht mehr leben. Er isst und trinkt nichts mehr, schluckt keine Medikamente, bis er schliesslich seinen letzten tiefen Atemzug tut.

Von der Partnerin zur Pflegerin

Gabriele von Armin schrieb über all die Jahre Tagebuch, hunderte von Seiten, die ihr halfen, etwas Distanz zu schaffen und zu verstehen, was mit ihrem Mann und mit ihr selbst geschah. In dieser völlig anderen Rolle nun als Pflegerin eines Mannes, der völlig auf die Hilfe anderer angewiesen war. Zuweilen ekelte sie sich vor ihm, kam an ihre eigenen Grenzen, schöpfte wieder Hoffnung. Und stets ist ihr bewusst, wieviel schlimmer all das für ihren Mann selbst sein musste.

Das Buch verschafft einen intimen Einblick in das Leben dieses nun so ungleichen Paares. Manche körperlichen und pflegerischen Details möchte man allerdings nicht so genau wissen. Auch nicht, wie wenig Verständnis die Autorin dafür aufbringt, wenn viele Freunde derart von der neuen Situation überfordert sind, dass sie sich nur noch selten melden. Auch die häufigen Zitate von berühmten Schriftstellerinnen und Schriftsteller machen eher deutlich, wie gut sich von Arnim in der Literatur auskennt, als dass sie ihre eigenen Reflexionen vertiefen würden.

Trotz aller Vorbehalte: Aus den Tagebuchnotizen der zehnjährigen Begleitungszeit ist ein ehrliches, auch gegenüber der Autorin selbst, schonungsloses Buch geworden, eines, das sicherlich vielen Menschen in vergleichbaren Situationen eine Stütze bieten kann.

Gabriela von Arnim
Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Hamburg: Rowohlt Verlag, 2021, 240 S. 
Das Buch in swisscovery

Zur Rezensentin

Dagmar Schifferli war während vieler Jahre Dozentin für Gerontologie und Sozialpädagogik. Seit 1996 veröffentlicht sie Romane (u.a. Wegen Wersai, Anna Pestalozzi-Schulthess, Wiborada) sowie Fachartikel in Sachbüchern. Ausserdem unterhält sie eine Kolumne im Grosseltern-Magazin.