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Biomechanische Alternsforschung: Drei Fragen an Daniel Baumgartner

Wie Fraktur-Implantate nach einem Sturz die Lebenserwartung steigern können und warum biologische, zelluläre Gewebe im Bioreaktor kultiviert werden. Dies und mehr erfahren Sie im Interview mit Prof. Dr. Daniel Baumgartner.

Forschungsschwerpunkt «Biomechanical Engineering»

Welchen Beitrag leistet Ihr Forschungsschwerpunkt «Biomechanical Engineering» für die Altersforschung?

Die Biomechanik beschäftigt sich in erster Linie mit dem muskuloskelettalen System des Menschen und entwickelt auf Basis der Erkenntnisse aus der angewandten Forschung neue Behandlungs- und Therapiekonzepte: Der natürliche Alterungsprozess verändert die Eigenschaften der biologischen Strukturen wie beispielsweise Knochen- oder Sehnenqualität. Sobald durch einen Sturz eine Fraktur an der Schulter oder am Oberschenkelhals auftritt, kann dies weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen haben. Die Fraktur wird stillgelegt mit darauffolgender Phase einer Immobilisation. Fraktur-Implantate können helfen, die Fraktur stabil zu rekonstruieren, damit eine frühzeitige Mobilisation und darauffolgende Bewegungstherapie ermöglicht wird.

Die Biomechanik erforscht daher, wie die Implantate optimal konfiguriert werden, damit eine maximale Stabilität und Haltekraft – oft im osteoporotischen Knochen – erreicht werden kann. Die Stabilität wird natürlich nicht an der zu behandelnden Person geprüft – sondern im Labor unter möglichst realistischen Bedingungen. Gemäss Studien reduziert ein Oberschenkel-Halsbruch bei über 70-jährigen deren Lebenserwartung etwa um ein Jahr. Wenn es gelingt, die Betroffenen früher aus der Bettlägerigkeit mit stabileren Implantaten zu mobilisieren, kann dieser Verringerung der Lebenserwartung entgegengewirkt werden.

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit der Biomechanik des Beckenbodens, insbesondere Beckenbodensenkungen – pathologische Erscheinungsbilder die nicht nur, aber oftmals im Alter auftreten. Um die bei schweren Senkungen und Inkontinenz verwendeten Textil-Implantate aus mechanischer Sicht möglichst kompatibel mit den umliegenden Strukturen und Geweben zu gestalten, sind die Kenntnisse über die Biomechanik der Beckenbodenstrukturen und -gewebe elementar. Das Ziel unserer Forschungsaktivitäten sind Implantat-Materialien, die mechanisch unsichtbar, also im Deformationsverhalten kompatibel sind. Hier spielen nicht nur die makroskopischen Deformationen eine Rolle, sondern auch die auf der Mikroebene, die in direkter Interaktion mit den Zellen des umliegenden und einwachsenden Gewebes stehen.

Aktuelles Projekt mit Bezug zum Alter

Gibt es gerade ein aktuelles Projekt mit Bezug zum Alter, an dem Sie arbeiten?

Aktuell beschäftigen wir uns mit einem Projekt, welches die Frakturversorgung am Oberarm optimieren soll. Falls die Fraktur nicht verschoben oder disloziert ist, kann oft konservativ – d.h. mittels Physiotherapie behandelt werden. Falls die Fragmente am Oberarm allerdings verschoben sind, sollte der Bruch am Oberarmknochen chirurgisch sauber wiederhergestellt und stabilisiert werden. Da bietet sich ein Implantat mit Platte und Schrauben an, welches nach Heilung des Knochens in der Regel wieder entfernt wird.

Nach aktueller Literatur verrutschen die Frakturteile am Oberarm aber weiterhin in rund einem Viertel aller Fälle nach der OP, da halt viele Sehnen an den Bruchstücken ansetzen, und die anliegenden Muskeln zu starken Kräften führen. Im Falle einer Verschiebung der Fraktur kann es auch zu Knochenrückbildung kommen. Eine saubere, präoperative OP-Planung und eine optimierte Positionierung der Platten und Schrauben kann zu einer Erhöhung der Stabilität – und somit zur Integration und Verwachsen des Knochens führen. Genau darum geht es im von Innosuisse geförderten Projekt «Tamina»: diese ideale Position zu errechnen und intraoperativ umzusetzen.

Förderung Zusammenarbeit im Schwerpunkt AGe+

Im Schwerpunkt AGe+ fördert die ZHAW insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den Departementen. Wo sehen Sie in Ihrem Bereich die Vorteile und Potenziale für den Austausch mit anderen Disziplinen?

Wir haben seit über 20 Jahren eine aktive Zusammenarbeit mit der Physiotherapie des Departemements Gesundheit. Die Physiotherapie kann uns wichtige Daten zum Verhalten von Proband:innen und Patient:innen liefern wie beispielsweise die Bewegungen des Rumpfes und der Wirbelsäule. Wir Biomechaniker wiederum können auf Basis der Bewegungsdaten neuartige Therapiekonzepte in der Neuro-Rehabilitation mit mehr Bewegung entwickeln, welche die physiologische Bewegung der Wirbelsäule berücksichtigen. Für das Prototyping von neuen Implantaten und Prothesen wiederum sind wir auf Fertigungsprozesse wie den metallischen 3D-Druck angewiesen, wo wir mit Partner-Instituten zusammenarbeiten.

Die Implantate-Technik entwickelt sich mehr und mehr in Richtung Verwendung biologischer, körpereigener Werkstoffe, wenn auch in erster Linie auf Forschungsbasis. Auf diesem Gebiet arbeitet meine Kollegin Barbara Röhrnbauer mit dem Departement «Life Sciences und Facility Management» in Wädenswil zusammen, um biologische, zelluläre Gewebe im Bioreaktor zu kultivieren und deren Interaktion mit dem Trägermaterial, vor allem im Kontext mechanischer Eigenschaften und Stimulation zu evaluieren.

Eine Vision besteht darin, die oben erwähnten Beckenboden-Implantate mit Hilfe von In-vitro-Modellen hinsichtlich möglichst guter Zell- und Gewebekompatibilität zu verbessern und langfristig mit Hilfe von Tissue Engineering, also Gewebezucht, neue und dringend benötigte Materialien für den Beckenboden zu entwickeln.

Über Daniel Baumgartner

Prof. Dr. Daniel Baumgartner ist Schwerpunktleiter Biomechanical Engineering an der School of Engineering der ZHAW und Mitglied im Kernteam des Schwerpunkts Angewandte Gerontologie AGe+. Erfahren Sie mehr über Daniel Baumgartner.