Emotionale Vernachlässigung ist die häufigste Gewalt gegen Kinder
Andreas Jud, ZHAW-Experte für Kindesschutz und Gewaltprävention, hat am Nationalen Gesundheitsbericht 2025 mitgearbeitet. Er plädiert für ein Gewaltverbot in der Erziehung.

Interview: Regula Freuler
Andreas Jud, für den neuen Gesundheitsbericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums haben Sie soziale Prädiktoren von Gesundheit zusammengefasst – mit besonderem Blick auf Gewalt. Was stellten Sie fest?
Andreas Jud: Wir haben eine systematische Übersicht der vorhandenen Literatur aus der Schweiz erstellt und ergänzt mit internationaler Evidenz. Dabei zeigte sich leider, dass Gewalt gegen Kinder nach wie vor weit verbreitet ist. Wir haben Betroffenheitswerte im zweistelligen Prozentbereich für verschiedene Gewaltformen.
Das ist sehr viel.
Jud: Ja, aber man muss es einordnen. Nicht alle Fälle sind so extrem, wie man sie teils aus Medienberichten kennt. Und einige Formen wie psychische Gewalt und Vernachlässigung werden in der Öffentlichkeit weniger beachtet. Gerade die emotionale Vernachlässigung, also fehlende Zuwendung oder unbeständige Betreuung, ist die häufigste Gewaltform.
Wie kommt es dazu?
Oft geschieht dies nicht aus Böswilligkeit oder gar Sadismus, sondern aus Überforderung, Stress oder mangelnden Ressourcen. Die Folgen für die Kinder können trotzdem gravierend und langfristig sein.
Wie wird psychische Kindsmisshandlung eigentlich definiert?
Jud: Dazu zählen Beleidigungen, Anschreien, Demütigungen, Drohungen oder systematisches «Terrorisieren». Wichtig ist die Unterscheidung zur Vernachlässigung, die eine Unterlassung darstellt – also das Ausbleiben von Zuwendung. Besonders auffällig ist, dass psychische Gewalt langfristig oft schwerere Folgen für die psychische Gesundheit hat als einmalige körperliche Gewalt. Sie greift direkt den Selbstwert an und hinterlässt tiefe Spuren.
Kürzlich hat der Nationalrat einem Gewaltverbot in der Erziehung zugestimmt. Der Bundesrat und gewisse Parteien fanden, ein Verbot sei überflüssig als zusätzliches Gesetz, weil es bereits geregelt ist im Gesetz. Wie sehen Sie das?
Jud: Ich plädiere eindeutig für ein Gewaltverbot in der Erziehung. Es geht um eine klare ethische und moralische Haltung. Selbst wenn bestehende Gesetze schon Schutz bieten würden, ist es ein starkes gesellschaftliches Signal, Gewalt als Erziehungsmittel ausdrücklich zu verbieten. Studien zeigen zudem, dass solche Verbote durchaus dazu beitragen können, die Häufigkeit insbesondere leichterer Gewaltformen zu senken.
In Ihrer Untersuchung für den Gesundheitsbericht haben Sie auch Partnerschaftsgewalt untersucht. Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse?
Jud: Partnerschaftsgewalt ist in der Schweiz weit verbreitet – vor allem psychische Gewalt, aber auch körperliche und sexuelle Gewalt. Alle Geschlechter sind betroffen, doch Frauen sind häufiger und schwerer betroffen.
Eine Studie zeigt, dass Faktoren wie Migrationshintergrund, Einkommen oder Sprachregion kaum Einfluss auf das Erleben von Partnerschaftsgewalt haben. Das überrascht.
Jud: Tatsächlich ist das differenziert zu betrachten. Oft korreliert der Migrationshintergrund stark mit sozioökonomischem Status. Wenn man diesen herausrechnet, verliert der Migrationshintergrund oft an Bedeutung. Höhere Bildungsniveaus gehen teils mit höheren berichteten Prävalenzen einher – vermutlich, weil dort eine höhere Bereitschaft zum Offenlegen oder Anzeigen besteht.
Bis Ende August wurden in der Schweiz 22 Frauen und Mädchen getötet, dazu kommen neun Tötungsversuche. Die Schweiz hat europaweit eine der höchsten Femizidrate. Wird zu wenig getan, um Frauen und Mädchen zu schützen?
Jud: Es wird viel unternommen, aber oft nach dem «Giesskannenprinzip».
Was heisst das?
Jud: Damit meine ich universelle Präventionsmassnahmen, von denen oft jene profitieren, die sie am wenigsten brauchen. Es wäre vermutlich effektiver, Risikogruppen gezielter mit intensiveren Massnahmen zu erreichen. Dafür braucht es aber ein besseres Verständnis, wer diese Gruppen sind und wie man sie frühzeitig erreicht.