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Soziale Arbeit

«Angehörigenarbeit darf nicht als Einbahnstrasse angesehen werden»

Wie kann die Zusammenarbeit mit Angehörigen in Alters- und Pflegeheimen für alle Beteiligten gewinnbringend gestaltet werden? Darüber diskutieren drei Expertinnen für soziale Gerontologie.

Interview: Claudia Peter 
Illustrationen: Elisabeth Moch

Was ist gute Angehörigenarbeit?

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Angehörigen auch nach dem Eintritt einer Person in eine Alterseinrichtung wahrgenommen und wertgeschätzt werden für das, was sie schon geleistet haben und weiterhin leisten werden. 

Reka Schweighoffer: Für Angehörige ist es zentral, dass ihnen Mitarbeitende unvoreingenommen und auf Augenhöhe begegnen und Anliegen ernst nehmen.

Esther Ludwig Koch: Gute Angehörigenarbeit charakterisiert sich durch eine aktive, partnerschaftliche und partizipative Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Dazu gehört auch, dass sich die Angehörigen willkommen und wohl fühlen in der Institution und ihre Anwesenheit etwas Selbstverständliches hat. Sie sollten nicht als Besuchende behandelt werden, sondern als Dazugehörende. Institutionen können eine entsprechende Atmosphäre schaffen, etwa indem Angehörige freundlich gegrüsst und möglichst bald mit Namen angesprochen werden. 

Wer ist mit «Angehörige» gemeint?

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Üblicherweise meint man den engsten Familienkreis, das heisst, Lebenspartner:innen, Kinder und Schwiegerkinder. In unserer Forschung haben wir den Begriff ausgeweitet: Angehörige sind alle Menschen, mit denen es ein Vertrauensverhältnis gibt. Wichtig ist, dass immer die Bewohnenden selbst entscheiden können, wen sie als Angehörige bezeichnen. Das kann auch eine Nachbarin sein, die eine unterstützende Rolle einnimmt. 

Welche Anliegen und Bedürfnisse haben Angehörige?

Reka Schweighoffer: Sie wünschen sich für ihre Lieben vor allem eine einfühlsame und fachlich gute Pflege, Betreuung und Begleitung. Das Personal muss ihnen durch Informationen und Verhalten die Sicherheit geben, dass diese Wünsche und Erwartungen erfüllt werden. Nur so kann mit der Zeit eine Vertrauensbasis entstehen.

Esther Ludwig Koch: Der Eintritt ins Heim ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Angehörigen ein wichtiger Übergang. Häufig ist er von Trennungsschmerz, Ängsten, Unsicherheiten oder Schuldgefühlen begleitet. Weil sich die Angehörigen weiterhin verantwortlich fühlen, ist es wichtig, dass sie von den Institutionen gut informiert werden – wenn immer möglich regelmässig und proaktiv. 

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Weitere Punkte sind der Alltag und die Aktivitäten. Hier wünschen sich die Angehörigen zum einen Informationen darüber, was alles angeboten wird. Es gibt aber auch manche, die konkrete Vorschläge für Aktivitäten anbringen oder bei Aktivitäten mitmachen möchten. 

Angehörige leisten einen wichtigen Beitrag, um die Ressourcen einer Person zu fördern.

Reka Schweighoffer ist Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei CURAVIVA, dem Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter.

Sind alle Angehörigen an einem stärkeren Einbezug interessiert?

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Es gibt natürlich auch Angehörige, die sagen, sie fühlen sich zu stark eingebunden. Sie erwarten mehr von der Institution, beispielsweise, dass diese die Arztbesuche organisiert. Die Angehörigen sind nicht immer gleich verfügbar. Viele sind noch erwerbstätig oder wohnen weiter weg und haben nicht die Möglichkeit, ihre Familienmitglieder regelmässig beziehungsweise häufig zu besuchen. Deshalb muss die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den Angehörigen jeweils individuell ausgestaltet werden. Angehörige, die im Ausland wohnen, muss man anders informieren als Angehörige, die jede Woche vorbeikommen. 

Welche Chancen bietet die Einbindung der Angehörigen in den Betreuungs- und Pflegealltag?

Reka Schweighoffer: Angehörige verfügen über einen einmaligen Wissensschatz, weil sie der betreuten Person schon lange sehr nahestehen. Biografische Kenntnisse sind besonders wichtig bei Menschen mit Demenz, die sich an bestimmte Dinge nicht mehr erinnern oder ihre Bedürfnisse nicht mehr selbst vermitteln können. Mit ihrem Wissen leisten Angehörige einen wichtigen Beitrag, um die vorhandenen Ressourcen der betroffenen Personen aufrechtzuerhalten und zu fördern. Auch der Übergang vom ambulanten ins stationäre Setting kann durch Angehörige erleichtert werden. Verankert eine Institution ihre Angehörigenarbeit gut, dann können Angehörige auch im Sinne von Freiwilligenarbeit eine Ressource darstellen, die in der angespannten Fachkräftesituation entlastend wirken kann. 

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Wobei das Engagement der Angehörigen immer auf einer freiwilligen Basis stattfinden sollte und Institutionen nicht davon ausgehen können, dass Angehörige etwas leisten, das zum Versorgungsauftrag gehört. Zudem gibt es Heimbewohner:innen ohne Angehörige. Hier stellt sich die Frage, wie eine Institution die sozialen Kontakte dieser Heimbewohner:innen fördern und unterstützen kann. 

Esther Ludwig Koch: Nicht zu unterschätzen ist die präventive Wirkung einer aktiven und zugehenden Zusammenarbeit. Wenn die Alterseinrichtung beispielsweise Gespräche auf übergeordneter Ebene anbietet, können Themen frühzeitig besprochen werden, bevor sich Negatives anstaut. Und gut eingebundene Angehörige sind eher bereit, bei den Bewohnenden auch einmal ein gutes Wort für die Institution einzulegen, wenn es einen Konflikt gibt. Das wirkt entlastend und spart letztlich zeitliche und personelle Ressourcen.

Wo liegt das Konfliktpotenzial mit Angehörigen?

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Konflikte entstehen zum Beispiel bei Unsicherheiten: Warum bin ich nicht informiert worden? Hätte ich etwas erfahren, wenn ich nicht aktiv nachgefragt hätte? Also mangelnde Informationen oder ungeschickte Kommunikation. Medikation ist auch häufig ein Konfliktpunkt. Oder Vorfälle, beispielsweise wenn Bewohnende wiederholt die Institution verlassen, ohne Bescheid zu geben, und Angehörige besorgt sind. Wir haben auch gemerkt, dass sich Angehörige oft nicht trauen, Kritik zu äussern, weil sie befürchten, dass dies negative Konsequenzen für die Bewohner:innen haben könnte.

Esther Ludwig Koch: Es gibt einen kleinen Teil von Angehörigen, die sehr hohe Ansprüche haben und die sehr fordernd sind. Einige treten mit unangemessenem Ton auf. Es sind wenige, aber sie binden viel Ressourcen. Für die Mitarbeitenden ist das sehr belastend. In solchen Konstellationen der Situationen müssen sie geschützt werden oder sie sollten wissen, beim wem sie intern Unterstützung nachfragen können. Mit Blick auf die gelebte Praxis:

Mit Blick auf die gelebte Praxis: Haben Sie Beispiele für besonders gelungene Angehörigenarbeit?

Reka Schweighoffer: Regelmässige Angehörigen- beziehungsweise Rundtischgespräche sind ein bewährtes Instrument dafür. In diesen Gesprächen erhält das Personal wichtige Informationen. Zudem können allfällige Probleme gemeinsam besprochen und gelöst werden.

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Einige Alterseinrichtungen führen Angehörige als eigene Klient:innengruppen und es wird jeder Fall einzeln angeschaut: Was sind die Erwartungen? Welche Wünsche liegen vor? Wie kann man diese Erwartungen mit den Möglichkeiten der Institution in Einklang bringen? Es gibt kein Schema F, das für alle Bewohner:innen und Angehörigen passt. Man sollte regelmässig prüfen, ob die vereinbarten Arrangements noch stimmen oder ob die Vereinbarungen angepasst werden müssen. Die Angehörigen müssen wissen, wer ihre Ansprechpersonen sind und mit welchem Anliegen sie sich an wen wenden können.

Esther Ludwig Koch: Ein weiteres wertvolles Instrument der Mitwirkung auf eher struktureller Ebene ist ein Angehörigenrat. Dieser trifft sich regelmässig mit der Zentrumsleitung. In diesem Rat können übergeordnete Themen besprochen werden, und die Angehörigen können sich vernetzen. Der Rat ist auch deshalb sinnvoll, weil sich nicht alle Angehörigen auf Institutionsebene engagieren können oder wollen, und sie dann so trotzdem eine Vertretung haben.

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Derzeit sammeln wir in einem gemeinsamen Projekt mit CURAVIVA, dem nationalen Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter, solche Best-Practice-Beispiele und erarbeiten eine Toolbox für Institutionen.

In den Leitbildern wird häufig vergessen, dass wir Professionelle von Angehörigen lernen könen.

Esther Ludwig Koch ist freiberufliche Psychogerontologin nd systemische Beraterin, sie ist Dozentin und coacht professionelle Teams in der Altersarbeit ebenso wie ehrenamtlich Tätige. 

Wieso braucht es die Toolbox und für wen?

Reka Schweighoffer: Pflegeeinrichtungen engagieren sich sehr für den Einbezug von Angehörigen. Manche möchten in diesem Bereich noch aktiver sein. Mit der Toolbox unterstützen wir sie gezielt dabei. Die Toolbox wird Methoden, Instrumente und Praxiswissen für eine erfolgreiche Verankerung der Angehörigenarbeit im institutionellen Kontext enthalten. 

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Wir haben bei einer Befragung im Kanton Zürich festgestellt, dass nur ein kleiner Teil der Institutionen schon über ein Angehörigenkonzept verfügt. In seltenen Fällen ist gar nichts vorhanden, aber das Vorhandene hat oftmals das Potenzial, weiterentwickelt zu werden. Deshalb war unsere Idee, dass wir eine Art Baukastensystem zur Verfügung stellen mit verschiedenen Ideen, wie der Kontakt und die Kommunikation mit den Angehörigen gepflegt werden können. 

Wie haben Sie die Toolbox erarbeitet?

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Wir wählten einen partizipativen Ansatz und fokussierten auf Institutionen, welche die Angehörigenarbeit bereits erfolgreich umsetzen. Konkret bedeutet dies, dass wir Workshops mit der Heimleitung und Mitarbeitenden durchführten – mit dem Ziel, Tools und Anregungen dazu zu entwickeln, wie Institutionen diese für ihren Kontext adaptieren können. Zudem werden wir noch einen Workshop mit Angehörigen durchführen, um ihre Anliegen und Rückmeldungen zu den angedachten Instrumenten einfliessen zu lassen. 

Reka Schweighoffer: Darüber hinaus haben wir eine Begleitgruppe  gebildet. Sie besteht aus Fachpersonen aus Praxis und Forschung und berät uns während des Projekts.

Bei Institutionen, die im Bereich Angehörigenarbeit bisher wenig machen: Was sind Gründe dafür, dass dies nicht stärker gewichtet wird?

Reka Schweighoffer: Alters- und Pflegeinstitutionen sind mit vielen Themen, Vorgaben, Bedürfnissen und Erwartungen konfrontiert. Das beginnt mit der Infektionsprävention, geht über Palliative Care und reicht bis hin zur Organisationsentwicklung. Die Institutionen bewegen sich in einem komplexen Umfeld und sind stark gefordert. Da kann es durchaus sein, dass der Angehörigenarbeit nicht immer gleich viel Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Die konkreten Gründe dürften sehr unterschiedlich sein und wären bei den betroffenen Institutionen zu erfragen.  

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Generell ist die Rolle von Angehörigen im stationären Bereich aber auch noch wenig erforscht und es fehlt an weiterer Grundlagenarbeit, um die Bedeutung des Themas weiter zu beleuchten. Die von uns in einem vorangegangenen Projekt im Kanton Zürich befragten Heimleitungen sehen zwar für alle Beteiligten einen grossen Mehrwert in der Zusammenarbeit mit den Angehörigen. In Workshops mit Mitarbeitenden haben wir allerdings festgestellt, dass diese Sichtweise nicht von allen gleichermassen geteilt wird und die Zuständigkeit für den Angehörigenkonktakt faktisch häufig bei den Pflegefachkräften zu liegen kommt. Grundsätzlich betrifft die Zusammenarbeit mit Angehörigen jedoch alle Mitarbeitenden und Hierarchiestufen einer Institution – von den Mitarbeitenden in der Hotellerie bis zur Heimleitung. Hierfür braucht es eine weitergehende Sensibilisierung der Mitarbeitenden für das Thema und auch entsprechende Schulungen möglichst aller Mitarbeitender, die mit Angehörigen in Kontakt kommen und somit einen Beitrag für eine gute Angehörigenarbeit leisten können. 

Wenn wir zum Schluss den Blick noch darauf ausweiten, wie die Gesellschaft grundsätzlich mit alten, pflegebedürftigen Menschen umgeht. Welche Rolle spielen da die Angehörigen?

Esther Ludwig Koch: In vielen Leitbildern und Richtlinien wird von den Angehörigen ein mehrheitlich defizitäres Bild gezeichnet: Sie sind belastet. Sie brauchen Entlastung. Sie sind durch die Betreuungsleistung in ihrer eigenen Gesundheit gefährdet. Sie brauchen Anleitung, sie brauchen Support. Das ist alles richtig und wichtig. Aber gleichzeitig erbringen sie ausserordentliche Leistungen, verfügen über ganz grosses Erfahrungswissen und Fachwissen bezogen auf die jeweilige betreute Person. In den Leitbildern wird häufig vergessen, dass wir als Professionelle von Angehörigen lernen können und viel Unterstützung von ihnen erhalten. Angehörigenarbeit  darf nicht als Einbahnstrasse angesehen werden, sondern als ein Geben und Nehmen, eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe. 

Rahel Strohmeier Navarro Smith: Es braucht eine gesellschaftliche Anerkennung dessen, was Angehörige leisten. Da stehen wir erst ganz am Anfang. Denn wenn wir ausrechnen, wie viele Stunden an unbezahlter Care-Arbeit geleistet wird, dann hat sie den grössten Anteil an der gesamten Care-Arbeit. Ohne die Angehörigen geht es schlichtweg nicht. Auf der anderen Seite gilt es aber auch, ihre eigenen Wünsche und Grenzen zu respektieren und sie vor zu grossen und zu lange anhaltenden Überlastungen zu schützen.